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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809.

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Der Zustand dek Kranken war seit jener
Zeit bedenklicher geworden, ja das Uebel hatte
sich so gesteigert, daß die Aeltern das arme
Kind nicht im Hause behalten konnten, son¬
dern einer öffentlichen Anstalt überantworten
mußten. Charlotten blieb nichts übrig als
durch ein besonder zartes Benehmen gegen
jene Familie den von ihrer Tochter verursach¬
ten Schmerz einigermaßen zu lindern. Auf
Ottilien hatte die Sache einen tiefen Eindruck
gemacht; sie bedauerte das arme Mädchen
um so mehr als sie überzeugt war, wie sie
auch gegen Charlotten nicht läugnete, daß
bey einer consequenten Behandlung die Kranke
gewiß herzustellen gewesen wäre.

So kam auch, weil man sich gewöhnlich
vom vergangenen Unangenehmen mehr als
vom Angenehmen unterhält, ein kleines Mi߬
verständniß zur Sprache, das Ottilien an
dem Architecten irre gemacht hatte, als er
jenen Abend seine Sammlung nicht vorzeigen

Der Zuſtand dek Kranken war ſeit jener
Zeit bedenklicher geworden, ja das Uebel hatte
ſich ſo geſteigert, daß die Aeltern das arme
Kind nicht im Hauſe behalten konnten, ſon¬
dern einer oͤffentlichen Anſtalt uͤberantworten
mußten. Charlotten blieb nichts uͤbrig als
durch ein beſonder zartes Benehmen gegen
jene Familie den von ihrer Tochter verurſach¬
ten Schmerz einigermaßen zu lindern. Auf
Ottilien hatte die Sache einen tiefen Eindruck
gemacht; ſie bedauerte das arme Maͤdchen
um ſo mehr als ſie uͤberzeugt war, wie ſie
auch gegen Charlotten nicht laͤugnete, daß
bey einer conſequenten Behandlung die Kranke
gewiß herzuſtellen geweſen waͤre.

So kam auch, weil man ſich gewoͤhnlich
vom vergangenen Unangenehmen mehr als
vom Angenehmen unterhaͤlt, ein kleines Mi߬
verſtaͤndniß zur Sprache, das Ottilien an
dem Architecten irre gemacht hatte, als er
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[110/0113] Der Zuſtand dek Kranken war ſeit jener Zeit bedenklicher geworden, ja das Uebel hatte ſich ſo geſteigert, daß die Aeltern das arme Kind nicht im Hauſe behalten konnten, ſon¬ dern einer oͤffentlichen Anſtalt uͤberantworten mußten. Charlotten blieb nichts uͤbrig als durch ein beſonder zartes Benehmen gegen jene Familie den von ihrer Tochter verurſach¬ ten Schmerz einigermaßen zu lindern. Auf Ottilien hatte die Sache einen tiefen Eindruck gemacht; ſie bedauerte das arme Maͤdchen um ſo mehr als ſie uͤberzeugt war, wie ſie auch gegen Charlotten nicht laͤugnete, daß bey einer conſequenten Behandlung die Kranke gewiß herzuſtellen geweſen waͤre. So kam auch, weil man ſich gewoͤhnlich vom vergangenen Unangenehmen mehr als vom Angenehmen unterhaͤlt, ein kleines Mi߬ verſtaͤndniß zur Sprache, das Ottilien an dem Architecten irre gemacht hatte, als er jenen Abend ſeine Sammlung nicht vorzeigen

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/113>, abgerufen am 21.11.2024.