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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809.

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wollte, ob sie ihn gleich so freundlich darum
ersuchte. Es war ihr dieses abschlägige Be¬
tragen immer in der Seele geblieben und sie
wußte selbst nicht warum. Ihre Empfindun¬
gen waren sehr richtig: denn was ein Mädchen
wie Ottilie verlangen kann, sollte ein Jüng¬
ling wie der Architect nicht versagen. Dieser
brachte jedoch auf ihre gelegentlichen leisen
Vorwürfe ziemlich gültige Entschuldigungen
zur Sprache.

Wenn Sie wüßten, sagte er, wie roh
selbst gebildete Menschen sich gegen die schätz¬
barsten Kunstwerke verhalten, sie würden mir
verzeihen, wenn ich die meinigen nicht unter
die Menge bringen mag. Niemand weiß
eine Medaille am Rand anzufassen; sie be¬
tasten das schönste Gepräge, den reinsten
Grund, lassen die köstlichsten Stücke zwischen
dem Daumen und Zeigefinger hin und her¬
gehen, als wenn man Kunstformen auf diese
Weise prüfte. Ohne daran zu denken, daß

wollte, ob ſie ihn gleich ſo freundlich darum
erſuchte. Es war ihr dieſes abſchlaͤgige Be¬
tragen immer in der Seele geblieben und ſie
wußte ſelbſt nicht warum. Ihre Empfindun¬
gen waren ſehr richtig: denn was ein Maͤdchen
wie Ottilie verlangen kann, ſollte ein Juͤng¬
ling wie der Architect nicht verſagen. Dieſer
brachte jedoch auf ihre gelegentlichen leiſen
Vorwuͤrfe ziemlich guͤltige Entſchuldigungen
zur Sprache.

Wenn Sie wuͤßten, ſagte er, wie roh
ſelbſt gebildete Menſchen ſich gegen die ſchaͤtz¬
barſten Kunſtwerke verhalten, ſie wuͤrden mir
verzeihen, wenn ich die meinigen nicht unter
die Menge bringen mag. Niemand weiß
eine Medaille am Rand anzufaſſen; ſie be¬
taſten das ſchoͤnſte Gepraͤge, den reinſten
Grund, laſſen die koͤſtlichſten Stuͤcke zwiſchen
dem Daumen und Zeigefinger hin und her¬
gehen, als wenn man Kunſtformen auf dieſe
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[111/0114] wollte, ob ſie ihn gleich ſo freundlich darum erſuchte. Es war ihr dieſes abſchlaͤgige Be¬ tragen immer in der Seele geblieben und ſie wußte ſelbſt nicht warum. Ihre Empfindun¬ gen waren ſehr richtig: denn was ein Maͤdchen wie Ottilie verlangen kann, ſollte ein Juͤng¬ ling wie der Architect nicht verſagen. Dieſer brachte jedoch auf ihre gelegentlichen leiſen Vorwuͤrfe ziemlich guͤltige Entſchuldigungen zur Sprache. Wenn Sie wuͤßten, ſagte er, wie roh ſelbſt gebildete Menſchen ſich gegen die ſchaͤtz¬ barſten Kunſtwerke verhalten, ſie wuͤrden mir verzeihen, wenn ich die meinigen nicht unter die Menge bringen mag. Niemand weiß eine Medaille am Rand anzufaſſen; ſie be¬ taſten das ſchoͤnſte Gepraͤge, den reinſten Grund, laſſen die koͤſtlichſten Stuͤcke zwiſchen dem Daumen und Zeigefinger hin und her¬ gehen, als wenn man Kunſtformen auf dieſe Weiſe pruͤfte. Ohne daran zu denken, daß

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/114>, abgerufen am 21.11.2024.