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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809.

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Wer es war, konnte man ihr nicht sagen.
Sie ergab sich darein, um keine Störung zu
verursachen. Lichter und Lampen brannten
und eine ganz unendliche Hellung umgab sie.
Der Vorhang ging auf, für die Zuschauen¬
den ein überraschender Anblick: das ganze
Bild war alles Licht, und statt des völlig
aufgehobenen Schattens blieben nur die Far¬
ben übrig, die bey der klugen Auswahl eine
liebliche Mäßigung hervorbrachten. Unter
ihren langen Augenwimpern hervorblickend
bemerkte Ottilie eine Mannsperson neben
Charlotten sitzend. Sie erkannte ihn nicht,
aber sie glaubte die Stimme des Gehülfen
aus der Pension zu hören. Eine wunderbare
Empfindung ergriff sie. Wie vieles war be¬
gegnet, seitdem sie die Stimme dieses treuen
Lehrers nicht vernommen! Wie im zackigen
Blitz fuhr die Reihe ihrer Freuden und Lei¬
den schnell vor ihrer Seele vorbey und regte
die Frage auf: darfst du ihm alles bekennen
und gestehen? Und wie wenig werth bist du

Wer es war, konnte man ihr nicht ſagen.
Sie ergab ſich darein, um keine Stoͤrung zu
verurſachen. Lichter und Lampen brannten
und eine ganz unendliche Hellung umgab ſie.
Der Vorhang ging auf, fuͤr die Zuſchauen¬
den ein uͤberraſchender Anblick: das ganze
Bild war alles Licht, und ſtatt des voͤllig
aufgehobenen Schattens blieben nur die Far¬
ben uͤbrig, die bey der klugen Auswahl eine
liebliche Maͤßigung hervorbrachten. Unter
ihren langen Augenwimpern hervorblickend
bemerkte Ottilie eine Mannsperſon neben
Charlotten ſitzend. Sie erkannte ihn nicht,
aber ſie glaubte die Stimme des Gehuͤlfen
aus der Penſion zu hoͤren. Eine wunderbare
Empfindung ergriff ſie. Wie vieles war be¬
gegnet, ſeitdem ſie die Stimme dieſes treuen
Lehrers nicht vernommen! Wie im zackigen
Blitz fuhr die Reihe ihrer Freuden und Lei¬
den ſchnell vor ihrer Seele vorbey und regte
die Frage auf: darfſt du ihm alles bekennen
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[121/0124] Wer es war, konnte man ihr nicht ſagen. Sie ergab ſich darein, um keine Stoͤrung zu verurſachen. Lichter und Lampen brannten und eine ganz unendliche Hellung umgab ſie. Der Vorhang ging auf, fuͤr die Zuſchauen¬ den ein uͤberraſchender Anblick: das ganze Bild war alles Licht, und ſtatt des voͤllig aufgehobenen Schattens blieben nur die Far¬ ben uͤbrig, die bey der klugen Auswahl eine liebliche Maͤßigung hervorbrachten. Unter ihren langen Augenwimpern hervorblickend bemerkte Ottilie eine Mannsperſon neben Charlotten ſitzend. Sie erkannte ihn nicht, aber ſie glaubte die Stimme des Gehuͤlfen aus der Penſion zu hoͤren. Eine wunderbare Empfindung ergriff ſie. Wie vieles war be¬ gegnet, ſeitdem ſie die Stimme dieſes treuen Lehrers nicht vernommen! Wie im zackigen Blitz fuhr die Reihe ihrer Freuden und Lei¬ den ſchnell vor ihrer Seele vorbey und regte die Frage auf: darfſt du ihm alles bekennen und geſtehen? Und wie wenig werth biſt du

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/124>, abgerufen am 24.11.2024.