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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809.

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Der ruhige Gang den die ganze Sache
genommen hatte, war auch durch das Ver¬
löbniß nicht beschleunigt worden. Man ließ
eben von beyden Seiten alles so fortgewäh¬
ren; man freute sich des Zusammenlebens
und wollte die gute Jahreszeit durchaus noch
als einen Frühling des künftigen ernsteren
Lebens genießen.

Indessen hatte der entfernte sich zum
schönsten ausgebildet, eine verdiente Stufe
seiner Lebensbestimmung erstiegen, und kam
mit Urlaub die Seinigen zu besuchen. Auf
eine ganz natürliche aber doch sonderbare
Weise stand er seiner schönen Nachbarinn
abermals entgegen. Sie hatte in der letzten
Zeit nur freundliche, bräutliche Familienem¬
pfindungen bey sich genährt, sie war mit al¬
lem was sie umgab in Uebereinstimmung; sie
glaubte glücklich zu seyn und war es auch
auf gewisse Weise. Aber nun stand ihr zum
erstenmal seit langer Zeit wieder etwas ent¬

Der ruhige Gang den die ganze Sache
genommen hatte, war auch durch das Ver¬
loͤbniß nicht beſchleunigt worden. Man ließ
eben von beyden Seiten alles ſo fortgewaͤh¬
ren; man freute ſich des Zuſammenlebens
und wollte die gute Jahreszeit durchaus noch
als einen Fruͤhling des kuͤnftigen ernſteren
Lebens genießen.

Indeſſen hatte der entfernte ſich zum
ſchoͤnſten ausgebildet, eine verdiente Stufe
ſeiner Lebensbeſtimmung erſtiegen, und kam
mit Urlaub die Seinigen zu beſuchen. Auf
eine ganz natuͤrliche aber doch ſonderbare
Weiſe ſtand er ſeiner ſchoͤnen Nachbarinn
abermals entgegen. Sie hatte in der letzten
Zeit nur freundliche, braͤutliche Familienem¬
pfindungen bey ſich genaͤhrt, ſie war mit al¬
lem was ſie umgab in Uebereinſtimmung; ſie
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[202/0205] Der ruhige Gang den die ganze Sache genommen hatte, war auch durch das Ver¬ loͤbniß nicht beſchleunigt worden. Man ließ eben von beyden Seiten alles ſo fortgewaͤh¬ ren; man freute ſich des Zuſammenlebens und wollte die gute Jahreszeit durchaus noch als einen Fruͤhling des kuͤnftigen ernſteren Lebens genießen. Indeſſen hatte der entfernte ſich zum ſchoͤnſten ausgebildet, eine verdiente Stufe ſeiner Lebensbeſtimmung erſtiegen, und kam mit Urlaub die Seinigen zu beſuchen. Auf eine ganz natuͤrliche aber doch ſonderbare Weiſe ſtand er ſeiner ſchoͤnen Nachbarinn abermals entgegen. Sie hatte in der letzten Zeit nur freundliche, braͤutliche Familienem¬ pfindungen bey ſich genaͤhrt, ſie war mit al¬ lem was ſie umgab in Uebereinſtimmung; ſie glaubte gluͤcklich zu ſeyn und war es auch auf gewiſſe Weiſe. Aber nun ſtand ihr zum erſtenmal ſeit langer Zeit wieder etwas ent¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/205>, abgerufen am 21.11.2024.