nommen hatte, kam ihr nur als unschuldiges Mittel vor, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sie verwünschte jene Trennung, sie bejammerte den Schlaf in den sie verfallen, sie verfluchte die schleppende, träumerische Ge¬ wohnheit, durch die ihr ein so unbedeutender Bräutigam hatte werden können, sie war verwandelt, doppelt verwandelt, vorwärts und rückwärts wie man es nehmen will.
Hätte Jemand ihre Empfindungen, die sie ganz geheim hielt, entwickeln und mit ihr theilen können, so würde er sie nicht gescholten haben: denn freylich konnte der Bräutigam die Vergleichung mit dem Nachbar nicht aus¬ halten, sobald man sie neben einander sah. Wenn man dem einen ein gewisses Zutrauen nicht versagen konnte, so erregte der andere das vollste Vertrauen; wenn man den einen gern zur Gesellschaft mochte, so wünschte man sich den andern zum Gefährten; und dachte man gar an höhere Theilnahme, an
nommen hatte, kam ihr nur als unſchuldiges Mittel vor, ſeine Aufmerkſamkeit auf ſich zu ziehen. Sie verwuͤnſchte jene Trennung, ſie bejammerte den Schlaf in den ſie verfallen, ſie verfluchte die ſchleppende, traͤumeriſche Ge¬ wohnheit, durch die ihr ein ſo unbedeutender Braͤutigam hatte werden koͤnnen, ſie war verwandelt, doppelt verwandelt, vorwaͤrts und ruͤckwaͤrts wie man es nehmen will.
Haͤtte Jemand ihre Empfindungen, die ſie ganz geheim hielt, entwickeln und mit ihr theilen koͤnnen, ſo wuͤrde er ſie nicht geſcholten haben: denn freylich konnte der Braͤutigam die Vergleichung mit dem Nachbar nicht aus¬ halten, ſobald man ſie neben einander ſah. Wenn man dem einen ein gewiſſes Zutrauen nicht verſagen konnte, ſo erregte der andere das vollſte Vertrauen; wenn man den einen gern zur Geſellſchaft mochte, ſo wuͤnſchte man ſich den andern zum Gefaͤhrten; und dachte man gar an hoͤhere Theilnahme, an
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0208"n="205"/>
nommen hatte, kam ihr nur als unſchuldiges<lb/>
Mittel vor, ſeine Aufmerkſamkeit auf ſich zu<lb/>
ziehen. Sie verwuͤnſchte jene Trennung, ſie<lb/>
bejammerte den Schlaf in den ſie verfallen,<lb/>ſie verfluchte die ſchleppende, traͤumeriſche Ge¬<lb/>
wohnheit, durch die ihr ein ſo unbedeutender<lb/>
Braͤutigam hatte werden koͤnnen, ſie war<lb/>
verwandelt, doppelt verwandelt, vorwaͤrts und<lb/>
ruͤckwaͤrts wie man es nehmen will.</p><lb/><p>Haͤtte Jemand ihre Empfindungen, die<lb/>ſie ganz geheim hielt, entwickeln und mit ihr<lb/>
theilen koͤnnen, ſo wuͤrde er ſie nicht geſcholten<lb/>
haben: denn freylich konnte der Braͤutigam<lb/>
die Vergleichung mit dem Nachbar nicht aus¬<lb/>
halten, ſobald man ſie neben einander ſah.<lb/>
Wenn man dem einen ein gewiſſes Zutrauen<lb/>
nicht verſagen konnte, ſo erregte der andere<lb/>
das vollſte Vertrauen; wenn man den einen<lb/>
gern zur Geſellſchaft mochte, ſo wuͤnſchte<lb/>
man ſich den andern zum Gefaͤhrten; und<lb/>
dachte man gar an hoͤhere Theilnahme, an<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[205/0208]
nommen hatte, kam ihr nur als unſchuldiges
Mittel vor, ſeine Aufmerkſamkeit auf ſich zu
ziehen. Sie verwuͤnſchte jene Trennung, ſie
bejammerte den Schlaf in den ſie verfallen,
ſie verfluchte die ſchleppende, traͤumeriſche Ge¬
wohnheit, durch die ihr ein ſo unbedeutender
Braͤutigam hatte werden koͤnnen, ſie war
verwandelt, doppelt verwandelt, vorwaͤrts und
ruͤckwaͤrts wie man es nehmen will.
Haͤtte Jemand ihre Empfindungen, die
ſie ganz geheim hielt, entwickeln und mit ihr
theilen koͤnnen, ſo wuͤrde er ſie nicht geſcholten
haben: denn freylich konnte der Braͤutigam
die Vergleichung mit dem Nachbar nicht aus¬
halten, ſobald man ſie neben einander ſah.
Wenn man dem einen ein gewiſſes Zutrauen
nicht verſagen konnte, ſo erregte der andere
das vollſte Vertrauen; wenn man den einen
gern zur Geſellſchaft mochte, ſo wuͤnſchte
man ſich den andern zum Gefaͤhrten; und
dachte man gar an hoͤhere Theilnahme, an
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/208>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.