und nicht einmal zärtlicher Bruder gegen sie bewies, und nun gar von seiner unmittelbaren Abreise die Rede war; so schien es als ob ihr früher kindischer Geist mit allen seinen Tücken und Gewaltsamkeiten wieder erwachte, und sich nun auf einer höheren Lebensstufe mit Unwillen rüstete, bedeutender und ver¬ derblicher zu wirken. Sie beschloß zu sterben, um den ehmals Gehaßten und nun so heftig Geliebten für seine Untheilnahme zu strafen und sich, indem sie ihn nicht besitzen sollte, wenigstens mit seiner Einbildungskraft, seiner Reue auf ewig zu vermählen. Er sollte ihr todtes Bild nicht loswerden, er sollte nicht aufhören sich Vorwürfe zu machen, daß er ihre Gesinnungen nicht erkannt, nicht erforscht, nicht geschätzt habe.
Dieser seltsame Wahnsinn begleitete sie überall hin. Sie verbarg ihn unter allerley Formen, und ob sie den Menschen gleich wunderlich vorkam; so war Niemand auf¬
und nicht einmal zaͤrtlicher Bruder gegen ſie bewies, und nun gar von ſeiner unmittelbaren Abreiſe die Rede war; ſo ſchien es als ob ihr fruͤher kindiſcher Geiſt mit allen ſeinen Tuͤcken und Gewaltſamkeiten wieder erwachte, und ſich nun auf einer hoͤheren Lebensſtufe mit Unwillen ruͤſtete, bedeutender und ver¬ derblicher zu wirken. Sie beſchloß zu ſterben, um den ehmals Gehaßten und nun ſo heftig Geliebten fuͤr ſeine Untheilnahme zu ſtrafen und ſich, indem ſie ihn nicht beſitzen ſollte, wenigſtens mit ſeiner Einbildungskraft, ſeiner Reue auf ewig zu vermaͤhlen. Er ſollte ihr todtes Bild nicht loswerden, er ſollte nicht aufhoͤren ſich Vorwuͤrfe zu machen, daß er ihre Geſinnungen nicht erkannt, nicht erforſcht, nicht geſchaͤtzt habe.
Dieſer ſeltſame Wahnſinn begleitete ſie uͤberall hin. Sie verbarg ihn unter allerley Formen, und ob ſie den Menſchen gleich wunderlich vorkam; ſo war Niemand auf¬
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[207/0210]
und nicht einmal zaͤrtlicher Bruder gegen ſie
bewies, und nun gar von ſeiner unmittelbaren
Abreiſe die Rede war; ſo ſchien es als ob
ihr fruͤher kindiſcher Geiſt mit allen ſeinen
Tuͤcken und Gewaltſamkeiten wieder erwachte,
und ſich nun auf einer hoͤheren Lebensſtufe
mit Unwillen ruͤſtete, bedeutender und ver¬
derblicher zu wirken. Sie beſchloß zu ſterben,
um den ehmals Gehaßten und nun ſo heftig
Geliebten fuͤr ſeine Untheilnahme zu ſtrafen
und ſich, indem ſie ihn nicht beſitzen ſollte,
wenigſtens mit ſeiner Einbildungskraft, ſeiner
Reue auf ewig zu vermaͤhlen. Er ſollte ihr
todtes Bild nicht loswerden, er ſollte nicht
aufhoͤren ſich Vorwuͤrfe zu machen, daß er
ihre Geſinnungen nicht erkannt, nicht erforſcht,
nicht geſchaͤtzt habe.
Dieſer ſeltſame Wahnſinn begleitete ſie
uͤberall hin. Sie verbarg ihn unter allerley
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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809, S. 207. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/210>, abgerufen am 21.11.2024.
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