Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809.

Bild:
<< vorherige Seite

erziehen, wenn wir auf dem sonderbarsten er¬
zogen worden. Und sehen wir nicht in der
Geschichte, daß Menschen, die wegen großer
sittlicher Unfälle sich in die Wüsten zurückzo¬
gen, dort keineswegs, wie sie hofften, verbor¬
gen und gedeckt waren. Sie wurden zurück¬
gerufen in die Welt, um die Verirrten auf
den rechten Weg zu führen; und wer konnte
es besser als die in den Irrgängen des Lebens
schon Eingeweihten! Sie wurden berufen den
Unglücklichen beyzustehen, und wer vermochte
das eher als sie, denen kein irdisches Unheil
mehr begegnen konnte!

Du wählst eine sonderbare Bestimmung,
versetzte Charlotte. Ich will dir nicht wider¬
streben: es mag seyn, wenn auch nur, wie
ich hoffe, auf kurze Zeit.

Wie sehr danke ich Ihnen, sagte Ottilie,
daß Sie mir diesen Versuch, diese Erfahrung
gönnen wollen. Schmeichle ich mir nicht zu

erziehen, wenn wir auf dem ſonderbarſten er¬
zogen worden. Und ſehen wir nicht in der
Geſchichte, daß Menſchen, die wegen großer
ſittlicher Unfaͤlle ſich in die Wuͤſten zuruͤckzo¬
gen, dort keineswegs, wie ſie hofften, verbor¬
gen und gedeckt waren. Sie wurden zuruͤck¬
gerufen in die Welt, um die Verirrten auf
den rechten Weg zu fuͤhren; und wer konnte
es beſſer als die in den Irrgaͤngen des Lebens
ſchon Eingeweihten! Sie wurden berufen den
Ungluͤcklichen beyzuſtehen, und wer vermochte
das eher als ſie, denen kein irdiſches Unheil
mehr begegnen konnte!

Du waͤhlſt eine ſonderbare Beſtimmung,
verſetzte Charlotte. Ich will dir nicht wider¬
ſtreben: es mag ſeyn, wenn auch nur, wie
ich hoffe, auf kurze Zeit.

Wie ſehr danke ich Ihnen, ſagte Ottilie,
daß Sie mir dieſen Verſuch, dieſe Erfahrung
goͤnnen wollen. Schmeichle ich mir nicht zu

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0282" n="279"/>
erziehen, wenn wir auf dem &#x017F;onderbar&#x017F;ten er¬<lb/>
zogen worden. Und &#x017F;ehen wir nicht in der<lb/>
Ge&#x017F;chichte, daß Men&#x017F;chen, die wegen großer<lb/>
&#x017F;ittlicher Unfa&#x0364;lle &#x017F;ich in die Wu&#x0364;&#x017F;ten zuru&#x0364;ckzo¬<lb/>
gen, dort keineswegs, wie &#x017F;ie hofften, verbor¬<lb/>
gen und gedeckt waren. Sie wurden zuru&#x0364;ck¬<lb/>
gerufen in die Welt, um die Verirrten auf<lb/>
den rechten Weg zu fu&#x0364;hren; und wer konnte<lb/>
es be&#x017F;&#x017F;er als die in den Irrga&#x0364;ngen des Lebens<lb/>
&#x017F;chon Eingeweihten! Sie wurden berufen den<lb/>
Unglu&#x0364;cklichen beyzu&#x017F;tehen, und wer vermochte<lb/>
das eher als &#x017F;ie, denen kein irdi&#x017F;ches Unheil<lb/>
mehr begegnen konnte!</p><lb/>
        <p>Du wa&#x0364;hl&#x017F;t eine &#x017F;onderbare Be&#x017F;timmung,<lb/>
ver&#x017F;etzte Charlotte. Ich will dir nicht wider¬<lb/>
&#x017F;treben: es mag &#x017F;eyn, wenn auch nur, wie<lb/>
ich hoffe, auf kurze Zeit.</p><lb/>
        <p>Wie &#x017F;ehr danke ich Ihnen, &#x017F;agte Ottilie,<lb/>
daß Sie mir die&#x017F;en Ver&#x017F;uch, die&#x017F;e Erfahrung<lb/>
go&#x0364;nnen wollen. Schmeichle ich mir nicht zu<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[279/0282] erziehen, wenn wir auf dem ſonderbarſten er¬ zogen worden. Und ſehen wir nicht in der Geſchichte, daß Menſchen, die wegen großer ſittlicher Unfaͤlle ſich in die Wuͤſten zuruͤckzo¬ gen, dort keineswegs, wie ſie hofften, verbor¬ gen und gedeckt waren. Sie wurden zuruͤck¬ gerufen in die Welt, um die Verirrten auf den rechten Weg zu fuͤhren; und wer konnte es beſſer als die in den Irrgaͤngen des Lebens ſchon Eingeweihten! Sie wurden berufen den Ungluͤcklichen beyzuſtehen, und wer vermochte das eher als ſie, denen kein irdiſches Unheil mehr begegnen konnte! Du waͤhlſt eine ſonderbare Beſtimmung, verſetzte Charlotte. Ich will dir nicht wider¬ ſtreben: es mag ſeyn, wenn auch nur, wie ich hoffe, auf kurze Zeit. Wie ſehr danke ich Ihnen, ſagte Ottilie, daß Sie mir dieſen Verſuch, dieſe Erfahrung goͤnnen wollen. Schmeichle ich mir nicht zu

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/282
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809, S. 279. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/282>, abgerufen am 24.11.2024.