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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809.

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Niemand sie nach Willkühr berühren, Nie¬
mand auch nur im entferntesten Sinne, eine
Freyheit die sie sich nahm, erwiedern; und
so hielt sie die andern in den strengsten Grän¬
zen der Sittlichkeit gegen sich, die sie gegen
andere jeden Augenblick zu übertreten schien.

Ueberhaupt hätte man glauben können, es
sey bey ihr Maxime gewesen, sich dem Lobe
und dem Tadel, der Neigung und der Abneigung
gleichmäßig auszusetzen. Denn wenn sie die
Menschen auf mancherley Weise für sich zu
gewinnen suchte; so verdarb sie es wieder mit
ihnen gewöhnlich durch eine böse Zunge, die
Niemanden schonte. So wurde kein Besuch
in der Nachbarschaft abgelegt, nirgends sie
und ihre Gesellschaft in Schlössern und Woh¬
nungen freundlich aufgenommen, ohne daß
sie bey der Rückkehr auf das ausgelassenste
merken ließ, wie sie alle menschlichen Ver¬
hältnisse nur von der lächerlichen Seite zu
nehmen geneigt sey. Da waren drey Brü¬

Niemand ſie nach Willkuͤhr beruͤhren, Nie¬
mand auch nur im entfernteſten Sinne, eine
Freyheit die ſie ſich nahm, erwiedern; und
ſo hielt ſie die andern in den ſtrengſten Graͤn¬
zen der Sittlichkeit gegen ſich, die ſie gegen
andere jeden Augenblick zu uͤbertreten ſchien.

Ueberhaupt haͤtte man glauben koͤnnen, es
ſey bey ihr Maxime geweſen, ſich dem Lobe
und dem Tadel, der Neigung und der Abneigung
gleichmaͤßig auszuſetzen. Denn wenn ſie die
Menſchen auf mancherley Weiſe fuͤr ſich zu
gewinnen ſuchte; ſo verdarb ſie es wieder mit
ihnen gewoͤhnlich durch eine boͤſe Zunge, die
Niemanden ſchonte. So wurde kein Beſuch
in der Nachbarſchaft abgelegt, nirgends ſie
und ihre Geſellſchaft in Schloͤſſern und Woh¬
nungen freundlich aufgenommen, ohne daß
ſie bey der Ruͤckkehr auf das ausgelaſſenſte
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[75/0078] Niemand ſie nach Willkuͤhr beruͤhren, Nie¬ mand auch nur im entfernteſten Sinne, eine Freyheit die ſie ſich nahm, erwiedern; und ſo hielt ſie die andern in den ſtrengſten Graͤn¬ zen der Sittlichkeit gegen ſich, die ſie gegen andere jeden Augenblick zu uͤbertreten ſchien. Ueberhaupt haͤtte man glauben koͤnnen, es ſey bey ihr Maxime geweſen, ſich dem Lobe und dem Tadel, der Neigung und der Abneigung gleichmaͤßig auszuſetzen. Denn wenn ſie die Menſchen auf mancherley Weiſe fuͤr ſich zu gewinnen ſuchte; ſo verdarb ſie es wieder mit ihnen gewoͤhnlich durch eine boͤſe Zunge, die Niemanden ſchonte. So wurde kein Beſuch in der Nachbarſchaft abgelegt, nirgends ſie und ihre Geſellſchaft in Schloͤſſern und Woh¬ nungen freundlich aufgenommen, ohne daß ſie bey der Ruͤckkehr auf das ausgelaſſenſte merken ließ, wie ſie alle menſchlichen Ver¬ haͤltniſſe nur von der laͤcherlichen Seite zu nehmen geneigt ſey. Da waren drey Bruͤ¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/78>, abgerufen am 21.11.2024.