Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774.kriegte zwey Maulschellen und glaubte mit innigem Vergnügen zu bemerken, daß sie stärker seyen, als sie sie den übrigen zuzumessen pflegte. Ein allge- meines Gelächter und Geschwärme machte dem Spiele ein Ende, ehe noch das Tausend ausgezählt war. Die Vertrautesten zogen einander beyseite, das Gewitter war vorüber, und ich folgte Lotten in den Saal. Unterwegs sagte sie: über die Ohr- feigen haben sie Wetter und alles vergessen! Jch konnte ihr nichts antworten. Jch war, fuhr sie fort, eine der Furchtsamsten, und indem ich mich herzhaft stellte, um den andern Muth zu geben, bin ich muthig geworden. Wir traten an's Fen- ster, es donnerte abseitwärts und der herrliche Regen säuselte auf das Land, und der erquikkend- ste Wohlgeruch stieg in aller Fülle einer warmen Lust zu uns auf. Sie stand auf ihrem Ellenbo- gen gestüzt und ihr Blik durchdrang die Gegend, sie sah gen Himmel und auf mich, ich sah ihr Au- ge thränenvoll, sie legte ihre Hand auf die mei- nige und sagte -- Klopstock! Jch versank in dem Strome von Empfindungen, den sie in dieser Loo- sung über mich ausgoß. Jch ertrugs nicht, neig- te
kriegte zwey Maulſchellen und glaubte mit innigem Vergnuͤgen zu bemerken, daß ſie ſtaͤrker ſeyen, als ſie ſie den uͤbrigen zuzumeſſen pflegte. Ein allge- meines Gelaͤchter und Geſchwaͤrme machte dem Spiele ein Ende, ehe noch das Tauſend ausgezaͤhlt war. Die Vertrauteſten zogen einander beyſeite, das Gewitter war voruͤber, und ich folgte Lotten in den Saal. Unterwegs ſagte ſie: uͤber die Ohr- feigen haben ſie Wetter und alles vergeſſen! Jch konnte ihr nichts antworten. Jch war, fuhr ſie fort, eine der Furchtſamſten, und indem ich mich herzhaft ſtellte, um den andern Muth zu geben, bin ich muthig geworden. Wir traten an’s Fen- ſter, es donnerte abſeitwaͤrts und der herrliche Regen ſaͤuſelte auf das Land, und der erquikkend- ſte Wohlgeruch ſtieg in aller Fuͤlle einer warmen Luſt zu uns auf. Sie ſtand auf ihrem Ellenbo- gen geſtuͤzt und ihr Blik durchdrang die Gegend, ſie ſah gen Himmel und auf mich, ich ſah ihr Au- ge thraͤnenvoll, ſie legte ihre Hand auf die mei- nige und ſagte — Klopſtock! Jch verſank in dem Strome von Empfindungen, den ſie in dieſer Loo- ſung uͤber mich ausgoß. Jch ertrugs nicht, neig- te
<TEI> <text> <body> <div type="diaryEntry"> <p><pb facs="#f0043" n="43"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> kriegte zwey Maulſchellen und glaubte mit innigem<lb/> Vergnuͤgen zu bemerken, daß ſie ſtaͤrker ſeyen, als<lb/> ſie ſie den uͤbrigen zuzumeſſen pflegte. Ein allge-<lb/> meines Gelaͤchter und Geſchwaͤrme machte dem<lb/> Spiele ein Ende, ehe noch das Tauſend ausgezaͤhlt<lb/> war. Die Vertrauteſten zogen einander beyſeite,<lb/> das Gewitter war voruͤber, und ich folgte Lotten<lb/> in den Saal. Unterwegs ſagte ſie: uͤber die Ohr-<lb/> feigen haben ſie Wetter und alles vergeſſen! Jch<lb/> konnte ihr nichts antworten. Jch war, fuhr ſie<lb/> fort, eine der Furchtſamſten, und indem ich mich<lb/> herzhaft ſtellte, um den andern Muth zu geben,<lb/> bin ich muthig geworden. Wir traten an’s Fen-<lb/> ſter, es donnerte abſeitwaͤrts und der herrliche<lb/> Regen ſaͤuſelte auf das Land, und der erquikkend-<lb/> ſte Wohlgeruch ſtieg in aller Fuͤlle einer warmen<lb/> Luſt zu uns auf. Sie ſtand auf ihrem Ellenbo-<lb/> gen geſtuͤzt und ihr Blik durchdrang die Gegend,<lb/> ſie ſah gen Himmel und auf mich, ich ſah ihr Au-<lb/> ge thraͤnenvoll, ſie legte ihre Hand auf die mei-<lb/> nige und ſagte — Klopſtock! Jch verſank in dem<lb/> Strome von Empfindungen, den ſie in dieſer Loo-<lb/> ſung uͤber mich ausgoß. Jch ertrugs nicht, neig-<lb/> <fw place="bottom" type="catch">te</fw><lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [43/0043]
kriegte zwey Maulſchellen und glaubte mit innigem
Vergnuͤgen zu bemerken, daß ſie ſtaͤrker ſeyen, als
ſie ſie den uͤbrigen zuzumeſſen pflegte. Ein allge-
meines Gelaͤchter und Geſchwaͤrme machte dem
Spiele ein Ende, ehe noch das Tauſend ausgezaͤhlt
war. Die Vertrauteſten zogen einander beyſeite,
das Gewitter war voruͤber, und ich folgte Lotten
in den Saal. Unterwegs ſagte ſie: uͤber die Ohr-
feigen haben ſie Wetter und alles vergeſſen! Jch
konnte ihr nichts antworten. Jch war, fuhr ſie
fort, eine der Furchtſamſten, und indem ich mich
herzhaft ſtellte, um den andern Muth zu geben,
bin ich muthig geworden. Wir traten an’s Fen-
ſter, es donnerte abſeitwaͤrts und der herrliche
Regen ſaͤuſelte auf das Land, und der erquikkend-
ſte Wohlgeruch ſtieg in aller Fuͤlle einer warmen
Luſt zu uns auf. Sie ſtand auf ihrem Ellenbo-
gen geſtuͤzt und ihr Blik durchdrang die Gegend,
ſie ſah gen Himmel und auf mich, ich ſah ihr Au-
ge thraͤnenvoll, ſie legte ihre Hand auf die mei-
nige und ſagte — Klopſtock! Jch verſank in dem
Strome von Empfindungen, den ſie in dieſer Loo-
ſung uͤber mich ausgoß. Jch ertrugs nicht, neig-
te
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |