Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774.

Bild:
<< vorherige Seite



einzusperren. Adieu, Wilhelm, du sollst von mei-
nem Zuge hören.




Jch habe die Wallfahrt nach meiner Heimath
mit aller Andacht eines Pilgrims vollendet,
und manche unerwartete Gefühle haben mich er-
griffen. An der grossen Linde, die eine Viertelstun-
de vor der Stadt nach S.. zusteht, ließ ich halten,
stieg aus und hieß den Postillion fortfahren, um
zu Fusse jede Erinnerung ganz neu, lebhaft nach
meinem Herzen zu kosten. Da stand ich nun un-
ter der Linde, die ehedessen als Knabe das Ziel
und die Gränze meiner Spaziergänge gewesen.
Wie anders! Damals sehnt ich mich in glüklicher
Unwissenheit hinaus in die unbekannte Welt, wo
ich für mein Herz alle die Nahrung, alle den Ge-
nuß hoffte, dessen Ermangeln ich so ost in meinem
Busen fühlte. Jezt kam ich zurük aus der weiten
Welt -- O mein Freund, mit wie viel fehlgeschla-
genen Hofnungen, mit wie viel zerstörten Pla-
nen! -- Jch sah das Gebürge vor mir liegen, das

so



einzuſperren. Adieu, Wilhelm, du ſollſt von mei-
nem Zuge hoͤren.




Jch habe die Wallfahrt nach meiner Heimath
mit aller Andacht eines Pilgrims vollendet,
und manche unerwartete Gefuͤhle haben mich er-
griffen. An der groſſen Linde, die eine Viertelſtun-
de vor der Stadt nach S.. zuſteht, ließ ich halten,
ſtieg aus und hieß den Poſtillion fortfahren, um
zu Fuſſe jede Erinnerung ganz neu, lebhaft nach
meinem Herzen zu koſten. Da ſtand ich nun un-
ter der Linde, die ehedeſſen als Knabe das Ziel
und die Graͤnze meiner Spaziergaͤnge geweſen.
Wie anders! Damals ſehnt ich mich in gluͤklicher
Unwiſſenheit hinaus in die unbekannte Welt, wo
ich fuͤr mein Herz alle die Nahrung, alle den Ge-
nuß hoffte, deſſen Ermangeln ich ſo oſt in meinem
Buſen fuͤhlte. Jezt kam ich zuruͤk aus der weiten
Welt — O mein Freund, mit wie viel fehlgeſchla-
genen Hofnungen, mit wie viel zerſtoͤrten Pla-
nen! — Jch ſah das Gebuͤrge vor mir liegen, das

ſo
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="diaryEntry">
        <div type="diaryEntry">
          <p><pb facs="#f0027" n="139"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
einzu&#x017F;perren. Adieu, Wilhelm, du &#x017F;oll&#x017F;t von mei-<lb/>
nem Zuge ho&#x0364;ren.</p><lb/>
        </div>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <div type="diaryEntry">
          <dateline> <hi rendition="#et">am 9. May.</hi> </dateline><lb/>
          <p><hi rendition="#in">J</hi>ch habe die Wallfahrt nach meiner Heimath<lb/>
mit aller Andacht eines Pilgrims vollendet,<lb/>
und manche unerwartete Gefu&#x0364;hle haben mich er-<lb/>
griffen. An der gro&#x017F;&#x017F;en Linde, die eine Viertel&#x017F;tun-<lb/>
de vor der Stadt nach S.. zu&#x017F;teht, ließ ich halten,<lb/>
&#x017F;tieg aus und hieß den Po&#x017F;tillion fortfahren, um<lb/>
zu Fu&#x017F;&#x017F;e jede Erinnerung ganz neu, lebhaft nach<lb/>
meinem Herzen zu ko&#x017F;ten. Da &#x017F;tand ich nun un-<lb/>
ter der Linde, die ehede&#x017F;&#x017F;en als Knabe das Ziel<lb/>
und die Gra&#x0364;nze meiner Spazierga&#x0364;nge gewe&#x017F;en.<lb/>
Wie anders! Damals &#x017F;ehnt ich mich in glu&#x0364;klicher<lb/>
Unwi&#x017F;&#x017F;enheit hinaus in die unbekannte Welt, wo<lb/>
ich fu&#x0364;r mein Herz alle die Nahrung, alle den Ge-<lb/>
nuß hoffte, de&#x017F;&#x017F;en Ermangeln ich &#x017F;o o&#x017F;t in meinem<lb/>
Bu&#x017F;en fu&#x0364;hlte. Jezt kam ich zuru&#x0364;k aus der weiten<lb/>
Welt &#x2014; O mein Freund, mit wie viel fehlge&#x017F;chla-<lb/>
genen Hofnungen, mit wie viel zer&#x017F;to&#x0364;rten Pla-<lb/>
nen! &#x2014; Jch &#x017F;ah das Gebu&#x0364;rge vor mir liegen, das<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;o</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[139/0027] einzuſperren. Adieu, Wilhelm, du ſollſt von mei- nem Zuge hoͤren. am 9. May. Jch habe die Wallfahrt nach meiner Heimath mit aller Andacht eines Pilgrims vollendet, und manche unerwartete Gefuͤhle haben mich er- griffen. An der groſſen Linde, die eine Viertelſtun- de vor der Stadt nach S.. zuſteht, ließ ich halten, ſtieg aus und hieß den Poſtillion fortfahren, um zu Fuſſe jede Erinnerung ganz neu, lebhaft nach meinem Herzen zu koſten. Da ſtand ich nun un- ter der Linde, die ehedeſſen als Knabe das Ziel und die Graͤnze meiner Spaziergaͤnge geweſen. Wie anders! Damals ſehnt ich mich in gluͤklicher Unwiſſenheit hinaus in die unbekannte Welt, wo ich fuͤr mein Herz alle die Nahrung, alle den Ge- nuß hoffte, deſſen Ermangeln ich ſo oſt in meinem Buſen fuͤhlte. Jezt kam ich zuruͤk aus der weiten Welt — O mein Freund, mit wie viel fehlgeſchla- genen Hofnungen, mit wie viel zerſtoͤrten Pla- nen! — Jch ſah das Gebuͤrge vor mir liegen, das ſo

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/27
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/27>, abgerufen am 23.11.2024.