Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774.mein Herz sagt! Jch bitte Dich, lege das nicht falsch aus, sieh nicht etwa Spott in diesen unschul- digen Worten, es ist meine ganze Seele, die ich dir vorlege. Sonst wollt ich lieber, ich hätte geschwie- gen, wie ich denn über all das, wovon jedermann so wenig weis als ich, nicht gern ein Wort ver- liehre. Was ist's anders als Menschenschiksal, sein Maas auszuleiden, seinen Becher auszutrinken. -- Und ward der Kelch dem Gott vom Himmel auf seiner Menschenlippe zu bitter, warum soll ich gros thun und mich stellen, als schmekte er mir süsse. Und warum sollte ich mich schämen, in dem schrök- lichen Augenblikke, da mein ganzes Wesen zwischen Seyn und Nichtseyn zittert, da die Vergangenheit wie ein Bliz über dem finstern Abgrunde der Zu- kunft leuchtet, und alles um mich her versinkt, und mit mir die Welt untergeht. -- Jst es da nicht die Stimme der ganz in sich gedrängten, sich selbst ermangelnden, und unaufhaltsam hinabstürzenden Creatur, in den innern Tiefen ihrer vergebens auf- arbeitenden Kräfte zu knirschen. Mein Gott! Mein Gott! warum hast du mich verlassen? Und sollt ich mich des Ausdruks schämen, sollte mir's vor
mein Herz ſagt! Jch bitte Dich, lege das nicht falſch aus, ſieh nicht etwa Spott in dieſen unſchul- digen Worten, es iſt meine ganze Seele, die ich dir vorlege. Sonſt wollt ich lieber, ich haͤtte geſchwie- gen, wie ich denn uͤber all das, wovon jedermann ſo wenig weis als ich, nicht gern ein Wort ver- liehre. Was iſt’s anders als Menſchenſchikſal, ſein Maas auszuleiden, ſeinen Becher auszutrinken. — Und ward der Kelch dem Gott vom Himmel auf ſeiner Menſchenlippe zu bitter, warum ſoll ich gros thun und mich ſtellen, als ſchmekte er mir ſuͤſſe. Und warum ſollte ich mich ſchaͤmen, in dem ſchroͤk- lichen Augenblikke, da mein ganzes Weſen zwiſchen Seyn und Nichtſeyn zittert, da die Vergangenheit wie ein Bliz uͤber dem finſtern Abgrunde der Zu- kunft leuchtet, und alles um mich her verſinkt, und mit mir die Welt untergeht. — Jſt es da nicht die Stimme der ganz in ſich gedraͤngten, ſich ſelbſt ermangelnden, und unaufhaltſam hinabſtuͤrzenden Creatur, in den innern Tiefen ihrer vergebens auf- arbeitenden Kraͤfte zu knirſchen. Mein Gott! Mein Gott! warum haſt du mich verlaſſen? Und ſollt ich mich des Ausdruks ſchaͤmen, ſollte mir’s vor
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mein Herz ſagt! Jch bitte Dich, lege das nicht
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digen Worten, es iſt meine ganze Seele, die ich dir
vorlege. Sonſt wollt ich lieber, ich haͤtte geſchwie-
gen, wie ich denn uͤber all das, wovon jedermann
ſo wenig weis als ich, nicht gern ein Wort ver-
liehre. Was iſt’s anders als Menſchenſchikſal, ſein
Maas auszuleiden, ſeinen Becher auszutrinken. —
Und ward der Kelch dem Gott vom Himmel auf
ſeiner Menſchenlippe zu bitter, warum ſoll ich gros
thun und mich ſtellen, als ſchmekte er mir ſuͤſſe.
Und warum ſollte ich mich ſchaͤmen, in dem ſchroͤk-
lichen Augenblikke, da mein ganzes Weſen zwiſchen
Seyn und Nichtſeyn zittert, da die Vergangenheit
wie ein Bliz uͤber dem finſtern Abgrunde der Zu-
kunft leuchtet, und alles um mich her verſinkt, und
mit mir die Welt untergeht. — Jſt es da nicht
die Stimme der ganz in ſich gedraͤngten, ſich ſelbſt
ermangelnden, und unaufhaltſam hinabſtuͤrzenden
Creatur, in den innern Tiefen ihrer vergebens auf-
arbeitenden Kraͤfte zu knirſchen. Mein Gott!
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