Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774.

Bild:
<< vorherige Seite



vor dem Augenblikke bange seyn, da ihm der nicht
entgieng, der die Himmel zusammenrollt wie ein
Tuch.




Sie sieht nicht, sie fühlt nicht, daß sie einen
Gift bereitet, der mich und sie zu Grunde
richten wird. Und ich mit voller Wollust schlurfe den
Becher aus, den sie mir zu meinem Verderben reicht.
Was soll der gütige Blik, mit dem sie mich oft --
oft? -- nein nicht oft, aber doch manchmal an-
sieht, die Gefälligkeit, womit sie einen unwillkühr-
lichen Ausdruk meines Gefühls aufnimmt, das Mit-
leiden mit meiner Duldung, das sich auf ihrer
Stirne zeichnet.

Gestern als ich weggieng, reichte sie mir die
Hand und sagte: Adieu, lieber Werther! Lieber
Werther! Es war das erstemal, daß sie mich
Lieber hies, und mir giengs durch Mark und Bein.
Jch hab mir's hundertmal wiederholt und gestern
Nacht da ich in's Bette gehen wollte, und mit
mir selbst allerley schwazte, sag ich so auf einmal:

gute
L



vor dem Augenblikke bange ſeyn, da ihm der nicht
entgieng, der die Himmel zuſammenrollt wie ein
Tuch.




Sie ſieht nicht, ſie fuͤhlt nicht, daß ſie einen
Gift bereitet, der mich und ſie zu Grunde
richten wird. Und ich mit voller Wolluſt ſchlurfe den
Becher aus, den ſie mir zu meinem Verderben reicht.
Was ſoll der guͤtige Blik, mit dem ſie mich oft —
oft? — nein nicht oft, aber doch manchmal an-
ſieht, die Gefaͤlligkeit, womit ſie einen unwillkuͤhr-
lichen Ausdruk meines Gefuͤhls aufnimmt, das Mit-
leiden mit meiner Duldung, das ſich auf ihrer
Stirne zeichnet.

Geſtern als ich weggieng, reichte ſie mir die
Hand und ſagte: Adieu, lieber Werther! Lieber
Werther! Es war das erſtemal, daß ſie mich
Lieber hies, und mir giengs durch Mark und Bein.
Jch hab mir’s hundertmal wiederholt und geſtern
Nacht da ich in’s Bette gehen wollte, und mit
mir ſelbſt allerley ſchwazte, ſag ich ſo auf einmal:

gute
L
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="diaryEntry">
        <div type="diaryEntry">
          <p><pb facs="#f0049" n="161"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
vor dem Augenblikke bange &#x017F;eyn, da ihm der nicht<lb/>
entgieng, der die Himmel zu&#x017F;ammenrollt wie ein<lb/>
Tuch.</p><lb/>
        </div>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <div type="diaryEntry">
          <dateline> <hi rendition="#et">am 21. Nov.</hi> </dateline><lb/>
          <p><hi rendition="#in">S</hi>ie &#x017F;ieht nicht, &#x017F;ie fu&#x0364;hlt nicht, daß &#x017F;ie einen<lb/>
Gift bereitet, der mich und &#x017F;ie zu Grunde<lb/>
richten wird. Und ich mit voller Wollu&#x017F;t &#x017F;chlurfe den<lb/>
Becher aus, den &#x017F;ie mir zu meinem Verderben reicht.<lb/>
Was &#x017F;oll der gu&#x0364;tige Blik, mit dem &#x017F;ie mich oft &#x2014;<lb/>
oft? &#x2014; nein nicht oft, aber doch manchmal an-<lb/>
&#x017F;ieht, die Gefa&#x0364;lligkeit, womit &#x017F;ie einen unwillku&#x0364;hr-<lb/>
lichen Ausdruk meines Gefu&#x0364;hls aufnimmt, das Mit-<lb/>
leiden mit meiner Duldung, das &#x017F;ich auf ihrer<lb/>
Stirne zeichnet.</p><lb/>
          <p>Ge&#x017F;tern als ich weggieng, reichte &#x017F;ie mir die<lb/>
Hand und &#x017F;agte: Adieu, lieber Werther! Lieber<lb/>
Werther! Es war das er&#x017F;temal, daß &#x017F;ie mich<lb/>
Lieber hies, und mir giengs durch Mark und Bein.<lb/>
Jch hab mir&#x2019;s hundertmal wiederholt und ge&#x017F;tern<lb/>
Nacht da ich in&#x2019;s Bette gehen wollte, und mit<lb/>
mir &#x017F;elb&#x017F;t allerley &#x017F;chwazte, &#x017F;ag ich &#x017F;o auf einmal:<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">L</fw><fw place="bottom" type="catch">gute</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[161/0049] vor dem Augenblikke bange ſeyn, da ihm der nicht entgieng, der die Himmel zuſammenrollt wie ein Tuch. am 21. Nov. Sie ſieht nicht, ſie fuͤhlt nicht, daß ſie einen Gift bereitet, der mich und ſie zu Grunde richten wird. Und ich mit voller Wolluſt ſchlurfe den Becher aus, den ſie mir zu meinem Verderben reicht. Was ſoll der guͤtige Blik, mit dem ſie mich oft — oft? — nein nicht oft, aber doch manchmal an- ſieht, die Gefaͤlligkeit, womit ſie einen unwillkuͤhr- lichen Ausdruk meines Gefuͤhls aufnimmt, das Mit- leiden mit meiner Duldung, das ſich auf ihrer Stirne zeichnet. Geſtern als ich weggieng, reichte ſie mir die Hand und ſagte: Adieu, lieber Werther! Lieber Werther! Es war das erſtemal, daß ſie mich Lieber hies, und mir giengs durch Mark und Bein. Jch hab mir’s hundertmal wiederholt und geſtern Nacht da ich in’s Bette gehen wollte, und mit mir ſelbſt allerley ſchwazte, ſag ich ſo auf einmal: gute L

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/49
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/49>, abgerufen am 03.12.2024.