Müsse der trostlos umkommen, der eines Kranken spottet, der nach der entferntesten Quelle reist die seine Krankheit vermehren, sein Ausleben schmerzhafter machen wird, der sich über das be- drängte Herz erhebt, das, um seine Gewissensbisse los zu werden und die Leiden seiner Seele abzu- thun, seine Pilgrimschaft nach dem heiligen Gra- be thut! Jeder Fußtritt der seine Solen auf un- gebahntem Wege durchschneidet, ist ein Lindrungs- tropfen der geängsteten Seele, und mit jeder aus- gedauerten Tagreise legt sich das Herz um viel Bedrängniß leichter nieder. -- Und dürft ihr das Wahn nennen -- Jhr Wortkrämer auf eu- rem Polstern -- Wahn! -- O Gott! du siehst meine Thränen -- Mußtest du, der du den Men- schen arm genug erschufst, ihm auch Brüder zu- geben, die ihm das bisgen Armuth, das bisgen Vertrauen noch raubten, das er auf dich hat, auf dich, du Allliebender, denn das Vertrauen zu einer heilenden Wurzel, zu den Thränen des Weinstoks, was ist's, als Vertrauen zu dir, daß du in alles, was uns umgiebt, Heil und Lindrungskraft gelegt haft, der wir so stündlich bedürfen. -- Vater, den
ich
Muͤſſe der troſtlos umkommen, der eines Kranken ſpottet, der nach der entfernteſten Quelle reiſt die ſeine Krankheit vermehren, ſein Ausleben ſchmerzhafter machen wird, der ſich uͤber das be- draͤngte Herz erhebt, das, um ſeine Gewiſſensbiſſe los zu werden und die Leiden ſeiner Seele abzu- thun, ſeine Pilgrimſchaft nach dem heiligen Gra- be thut! Jeder Fußtritt der ſeine Solen auf un- gebahntem Wege durchſchneidet, iſt ein Lindrungs- tropfen der geaͤngſteten Seele, und mit jeder aus- gedauerten Tagreiſe legt ſich das Herz um viel Bedraͤngniß leichter nieder. — Und duͤrft ihr das Wahn nennen — Jhr Wortkraͤmer auf eu- rem Polſtern — Wahn! — O Gott! du ſiehſt meine Thraͤnen — Mußteſt du, der du den Men- ſchen arm genug erſchufſt, ihm auch Bruͤder zu- geben, die ihm das bisgen Armuth, das bisgen Vertrauen noch raubten, das er auf dich hat, auf dich, du Allliebender, denn das Vertrauen zu einer heilenden Wurzel, zu den Thraͤnen des Weinſtoks, was iſt’s, als Vertrauen zu dir, daß du in alles, was uns umgiebt, Heil und Lindrungskraft gelegt haft, der wir ſo ſtuͤndlich beduͤrfen. — Vater, den
ich
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Muͤſſe der troſtlos umkommen, der eines
Kranken ſpottet, der nach der entfernteſten Quelle
reiſt die ſeine Krankheit vermehren, ſein Ausleben
ſchmerzhafter machen wird, der ſich uͤber das be-
draͤngte Herz erhebt, das, um ſeine Gewiſſensbiſſe
los zu werden und die Leiden ſeiner Seele abzu-
thun, ſeine Pilgrimſchaft nach dem heiligen Gra-
be thut! Jeder Fußtritt der ſeine Solen auf un-
gebahntem Wege durchſchneidet, iſt ein Lindrungs-
tropfen der geaͤngſteten Seele, und mit jeder aus-
gedauerten Tagreiſe legt ſich das Herz um viel
Bedraͤngniß leichter nieder. — Und duͤrft ihr
das Wahn nennen — Jhr Wortkraͤmer auf eu-
rem Polſtern — Wahn! — O Gott! du ſiehſt
meine Thraͤnen — Mußteſt du, der du den Men-
ſchen arm genug erſchufſt, ihm auch Bruͤder zu-
geben, die ihm das bisgen Armuth, das bisgen
Vertrauen noch raubten, das er auf dich hat, auf
dich, du Allliebender, denn das Vertrauen zu einer
heilenden Wurzel, zu den Thraͤnen des Weinſtoks,
was iſt’s, als Vertrauen zu dir, daß du in alles,
was uns umgiebt, Heil und Lindrungskraft gelegt
haft, der wir ſo ſtuͤndlich beduͤrfen. — Vater, den
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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 168. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/56>, abgerufen am 16.07.2024.
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