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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Ohngefähr um diese Zeit hatte sich der Ent-
schluß, diese Welt zu verlassen, in der Seele des
armen Jungen näher bestimmt. Es war von je
her seine Lieblingsidee gewesen, mit der er sich, be-
sonders seit der Rükkehr zu Lotten, immer getragen.

Doch sollte es keine übereilte, keine rasche
That seyn, er wollte mit der besten Ueberzeugung,
mit der möglichsten ruhigen Entschlossenheit diesen
Schritt thun.

Seine Zweifel, sein Streit mit sich selbst,
blikken aus einem Zettelgen hervor, das wahrschein-
lich ein angefangener Brief an Wilhelmen ist, und
ohne Datum, unter seinen Papieren gefunden
worden.



Jhre Gegenwart, ihr Schiksal, ihr Theilneh-
men an dem meinigen, preßt noch die lezten
Thränen aus meinem versengten Gehirn.

Den Vorhang aufzuheben und dahinter zu
treten, das ist's all! Und warum das Zaudern
und Zagen? -- Weil man nicht weis, wie's da-

hin-


Ohngefaͤhr um dieſe Zeit hatte ſich der Ent-
ſchluß, dieſe Welt zu verlaſſen, in der Seele des
armen Jungen naͤher beſtimmt. Es war von je
her ſeine Lieblingsidee geweſen, mit der er ſich, be-
ſonders ſeit der Ruͤkkehr zu Lotten, immer getragen.

Doch ſollte es keine uͤbereilte, keine raſche
That ſeyn, er wollte mit der beſten Ueberzeugung,
mit der moͤglichſten ruhigen Entſchloſſenheit dieſen
Schritt thun.

Seine Zweifel, ſein Streit mit ſich ſelbſt,
blikken aus einem Zettelgen hervor, das wahrſchein-
lich ein angefangener Brief an Wilhelmen iſt, und
ohne Datum, unter ſeinen Papieren gefunden
worden.



Jhre Gegenwart, ihr Schikſal, ihr Theilneh-
men an dem meinigen, preßt noch die lezten
Thraͤnen aus meinem verſengten Gehirn.

Den Vorhang aufzuheben und dahinter zu
treten, das iſt’s all! Und warum das Zaudern
und Zagen? — Weil man nicht weis, wie’s da-

hin-
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[178/0066] Ohngefaͤhr um dieſe Zeit hatte ſich der Ent- ſchluß, dieſe Welt zu verlaſſen, in der Seele des armen Jungen naͤher beſtimmt. Es war von je her ſeine Lieblingsidee geweſen, mit der er ſich, be- ſonders ſeit der Ruͤkkehr zu Lotten, immer getragen. Doch ſollte es keine uͤbereilte, keine raſche That ſeyn, er wollte mit der beſten Ueberzeugung, mit der moͤglichſten ruhigen Entſchloſſenheit dieſen Schritt thun. Seine Zweifel, ſein Streit mit ſich ſelbſt, blikken aus einem Zettelgen hervor, das wahrſchein- lich ein angefangener Brief an Wilhelmen iſt, und ohne Datum, unter ſeinen Papieren gefunden worden. Jhre Gegenwart, ihr Schikſal, ihr Theilneh- men an dem meinigen, preßt noch die lezten Thraͤnen aus meinem verſengten Gehirn. Den Vorhang aufzuheben und dahinter zu treten, das iſt’s all! Und warum das Zaudern und Zagen? — Weil man nicht weis, wie’s da- hin-

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/66>, abgerufen am 15.05.2024.