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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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ist, als die Wirklichkeit: so ist auch das Leben der Phantasie von pgo_095.002
höherer Spannung, von größerer Aufregung begleitet! Dem Dichter ist pgo_095.003
es das wahre Leben -- ein höheres Gewebe der Maja, als die wirkliche pgo_095.004
Welt! Die großen Genien werden indeß immer im Leben harmlos, still, pgo_095.005
unbefangen sein, leicht zu täuschen, weil sie die kleinen Zwecke der List zu pgo_095.006
durchschauen verschmähen, weil ihnen die Jnteressen des äußern Lebens pgo_095.007
werthloser sind! Jhre Sittlichkeit besteht in der großen Güte, mit der pgo_095.008
ein Gemüth, das überall das Ewige schaut, die Welt umfängt! So pgo_095.009
waren Shakespeare, Jean Paul, Goethe! Klarer Sinn, frische Empfänglichkeit pgo_095.010
für alles Große, Gute, Schöne, reger, doch vielleicht einseitiger pgo_095.011
Wissenstrieb werden sie auszeichnen! Was die Wendung zur wirklichen pgo_095.012
That betrifft, so ist die Energie der Phantasie nicht immer eine Energie pgo_095.013
des Willens, ja die Ueberreizung der ersteren kann die letztere lähmen. pgo_095.014
Horaz hat, trotz aller energischen Oden, in denen er den Unerschrockenen pgo_095.015
preist, dem selbst der Zusammensturz der Welt nicht die Fassung raubt, pgo_095.016
in der Schlacht bei Philippi seinen Schild fortgeworfen, und Herwegh, pgo_095.017
der die Kreuze aus der Erde reißt und in Schwerter verwandelt, hat sich pgo_095.018
im badischen Revolutionskriege, nach Abzug aller verleumderischen pgo_095.019
Zuthaten, mindestens nicht als Held gezeigt. Diesen kann man einen pgo_095.020
Tyrtaeos, Camoens, Körner und Andere gegenüberstellen. Dante war pgo_095.021
ein energischer Staatsmann, Lamartine ein sentimentaler -- welch' ein pgo_095.022
Unterschied ist aber auch zwischen der divina commedia und den harmonies pgo_095.023
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Ueber die Bildung und Erziehung des Dichters hat Vida in seiner pgo_095.025
"Poetik" eine Menge Lehren gegeben, die nur von der äußerlichen Pädagogik pgo_095.026
jener Zeit Zeugniß ablegen. Jn neuester Zeit hat sich dagegen oft pgo_095.027
die Ansicht hören lassen, ein Poet müsse alle Bücher beiseite werfen und pgo_095.028
nur im Buche der Schöpfung, in Wald und Flur u. s. f. lesen, eine pgo_095.029
Ansicht, der wir so viele inhaltleere Reimereien verdanken, und die einen pgo_095.030
Theil der Modelyriker zu Pygmäen macht, gegenüber den erhabenen pgo_095.031
Gestalten unserer großen Klassiker! Gerade die geistige Befruchtung pgo_095.032
durch die vielseitigste wissenschaftliche Bildung hat die volle Entfaltung pgo_095.033
jener reichen Genien hervorgerufen! Man denke nur an Schiller's pgo_095.034
philosophische und historische Studien, an Goethe's Naturstudien und pgo_095.035
universale Bildung, an Jean Paul's Polyhistorie, an Lessing's und

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/117>, abgerufen am 21.11.2024.