pgo_096.001 Herder's vielseitige Kenntnisse -- man vergleiche damit die damaligen pgo_096.002 und heutigen Matthisson's, Salis' und Hölty's, und man wird pgo_096.003 zugeben müssen, daß unsere großen Geister sich von den kleinen gerade pgo_096.004 durch die Tiefe und den Reichthum der Bildung unterscheiden! Alle jene pgo_096.005 Dichtergenien haben auch wissenschaftliche Werke hinterlassen; sie haben pgo_096.006 theoretisch und kritisch gewirkt, und es ist ganz consequent, wenn man pgo_096.007 ihre echten Nachtreter in den allseitig gebildeten Autoren, den Hebbel's pgo_096.008 und Gutzkow's, sucht und nicht in den Vertretern einer ephemeren Lyrik! pgo_096.009 Der Dichter soll auf der Höhe seiner Zeit stehen; deshalb muß ihm ihr pgo_096.010 ganzes geistiges Streben erschlossen sein! Das Leben ist seine äußere, die pgo_096.011 Kunst und Wissenschaft seine innere Bildungsschule, und nur die Jgnoranz pgo_096.012 preist das ignorante Talent! Eine andere verkehrte Auffassung pgo_096.013 der dichterischen Begabung ist diejenige, welche in ihr einen Kainsstempel pgo_096.014 sieht und den Dichter "einsam mit flammender Stirne" durch die Mitwelt pgo_096.015 wandern läßt. Hiergegen muß man behaupten, daß die Einsamkeit des pgo_096.016 Genius keine unselige ist, und daß die Gabe der Dichtkunst als eine Gunst pgo_096.017 des Geschickes angesehen werden muß. Denn gerade der Weltblick des pgo_096.018 Genius hat jene Ruhe und Harmonie, welche zugleich die höchste Weisheit pgo_096.019 und das höchste Glück der Erde ist. Man wird diese Ansichten wenig pgo_096.020 modern finden, weil die "Zerrissenheit," das Unglück der Talente zu pgo_096.021 den Stichwörtern der modernen Schule gehört. Die Jronie der Romantiker pgo_096.022 hat sich in diese Koketterie mit dem Weltschmerz geflüchtet -- und pgo_096.023 seit der englische Childe Harold seine von den Orgien Newsteadabbey's pgo_096.024 erschöpfte Seele in die Toga einer großartigen Weltmüdigkeit hüllte, seit pgo_096.025 der bleiche deutsche Poet der rue d'Amsterdam mit seiner Krankheit pgo_096.026 prahlte, lange vorher, ehe ihn die Hand des Schicksals auf ein schmerzliches pgo_096.027 Krankenlager warf, haben die jungdeutschen Autoren und selbst pgo_096.028 Dichter wie Freiligrath und Beck das Dogma vom "Fluche des Dichtertalents" pgo_096.029 an die Spitze ihres Credo's gestellt. Die Jdeale dieser Richtung pgo_096.030 waren die Halbgenies, ein Günther, Lenz, Grabbe! Jn allen Gesellschaften pgo_096.031 bemühten sich die Poeten, jene verstörte Positur "des einsamen pgo_096.032 Schmerzes" und der erhabenen Weltmüdigkeit anzunehmen, welche für pgo_096.033 ein sicheres Kennzeichen ihrer hohen Begabung galt! Diese Zeit ist pgo_096.034 glücklicherweise vorüber! Die echte moderne Poesie wird sich in alle pgo_096.035 Dissonanzen des Lebens vertiefen, ohne ihre ewige Harmonie zu verlieren!
pgo_096.001 Herder's vielseitige Kenntnisse — man vergleiche damit die damaligen pgo_096.002 und heutigen Matthisson's, Salis' und Hölty's, und man wird pgo_096.003 zugeben müssen, daß unsere großen Geister sich von den kleinen gerade pgo_096.004 durch die Tiefe und den Reichthum der Bildung unterscheiden! Alle jene pgo_096.005 Dichtergenien haben auch wissenschaftliche Werke hinterlassen; sie haben pgo_096.006 theoretisch und kritisch gewirkt, und es ist ganz consequent, wenn man pgo_096.007 ihre echten Nachtreter in den allseitig gebildeten Autoren, den Hebbel's pgo_096.008 und Gutzkow's, sucht und nicht in den Vertretern einer ephemeren Lyrik! pgo_096.009 Der Dichter soll auf der Höhe seiner Zeit stehen; deshalb muß ihm ihr pgo_096.010 ganzes geistiges Streben erschlossen sein! Das Leben ist seine äußere, die pgo_096.011 Kunst und Wissenschaft seine innere Bildungsschule, und nur die Jgnoranz pgo_096.012 preist das ignorante Talent! Eine andere verkehrte Auffassung pgo_096.013 der dichterischen Begabung ist diejenige, welche in ihr einen Kainsstempel pgo_096.014 sieht und den Dichter „einsam mit flammender Stirne“ durch die Mitwelt pgo_096.015 wandern läßt. Hiergegen muß man behaupten, daß die Einsamkeit des pgo_096.016 Genius keine unselige ist, und daß die Gabe der Dichtkunst als eine Gunst pgo_096.017 des Geschickes angesehen werden muß. Denn gerade der Weltblick des pgo_096.018 Genius hat jene Ruhe und Harmonie, welche zugleich die höchste Weisheit pgo_096.019 und das höchste Glück der Erde ist. Man wird diese Ansichten wenig pgo_096.020 modern finden, weil die „Zerrissenheit,“ das Unglück der Talente zu pgo_096.021 den Stichwörtern der modernen Schule gehört. Die Jronie der Romantiker pgo_096.022 hat sich in diese Koketterie mit dem Weltschmerz geflüchtet — und pgo_096.023 seit der englische Childe Harold seine von den Orgien Newsteadabbey's pgo_096.024 erschöpfte Seele in die Toga einer großartigen Weltmüdigkeit hüllte, seit pgo_096.025 der bleiche deutsche Poet der rue d'Amsterdam mit seiner Krankheit pgo_096.026 prahlte, lange vorher, ehe ihn die Hand des Schicksals auf ein schmerzliches pgo_096.027 Krankenlager warf, haben die jungdeutschen Autoren und selbst pgo_096.028 Dichter wie Freiligrath und Beck das Dogma vom „Fluche des Dichtertalents“ pgo_096.029 an die Spitze ihres Credo's gestellt. Die Jdeale dieser Richtung pgo_096.030 waren die Halbgenies, ein Günther, Lenz, Grabbe! Jn allen Gesellschaften pgo_096.031 bemühten sich die Poeten, jene verstörte Positur „des einsamen pgo_096.032 Schmerzes“ und der erhabenen Weltmüdigkeit anzunehmen, welche für pgo_096.033 ein sicheres Kennzeichen ihrer hohen Begabung galt! Diese Zeit ist pgo_096.034 glücklicherweise vorüber! Die echte moderne Poesie wird sich in alle pgo_096.035 Dissonanzen des Lebens vertiefen, ohne ihre ewige Harmonie zu verlieren!
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/118>, abgerufen am 21.11.2024.
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