Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.pgo_098.001 pgo_098.004 Dritter Abschnitt. pgo_098.005Jdealismus und Realismus. pgo_098.006 pgo_098.014 Er wird sich gleich in eine Pfütze setzen, pgo_098.031
Das ist die Art, wie er sich soulagirt, pgo_098.032 Und wenn Blutegel sich an seinem Steiß ergetzen, pgo_098.033 Jst er von Geistern und vom Geist curirt. -- pgo_098.001 pgo_098.004 Dritter Abschnitt. pgo_098.005Jdealismus und Realismus. pgo_098.006 pgo_098.014 Er wird sich gleich in eine Pfütze setzen, pgo_098.031
Das ist die Art, wie er sich soulagirt, pgo_098.032 Und wenn Blutegel sich an seinem Steiß ergetzen, pgo_098.033 Jst er von Geistern und vom Geist curirt. — <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0120" n="98"/><lb n="pgo_098.001"/> Tollhauses nur durch jene hohe, Alles durchdringende Besonnenheit gesondert <lb n="pgo_098.002"/> ist, ohne welche sich freilich Shakespeare nicht von seinem Lear und <lb n="pgo_098.003"/> seiner Ophelia unterscheiden würde! </p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> </div> <div n="4"> <lb n="pgo_098.004"/> <head> <hi rendition="#c">Dritter Abschnitt.</hi> </head> <lb n="pgo_098.005"/> <head> <hi rendition="#c">Jdealismus und Realismus.</hi> </head> <p><lb n="pgo_098.006"/> Jndem die productive Phantasie einen Stoff aus der dichterischen <lb n="pgo_098.007"/> Stoffwelt herausgreift und gestaltet, schafft sie das <hi rendition="#g">Kunstwerk,</hi> die <lb n="pgo_098.008"/> <hi rendition="#g">Dichtung.</hi> Ehe wir indeß seine Form und Gliederung näher betrachten, <lb n="pgo_098.009"/> müssen wir noch die allgemeinen Principien dichterischer Behandlungsweise <lb n="pgo_098.010"/> in's Auge fassen. Hier bieten sich uns zunächst die beiden <lb n="pgo_098.011"/> großen Gegensätze des Styls dar, die aus der Weltanschauung des Dichters <lb n="pgo_098.012"/> hervorgehen, und deren Kampf in der neuesten Literatur heftiger als <lb n="pgo_098.013"/> je entbrannt ist — wir meinen den <hi rendition="#g">Jdealismus</hi> und <hi rendition="#g">Realismus.</hi></p> <p><lb n="pgo_098.014"/> Der <hi rendition="#g">Realismus</hi> geht von der Nachahmung der <hi rendition="#g">Natur</hi> und der <lb n="pgo_098.015"/> Wirklichkeit aus, der <hi rendition="#g">Jdealismus</hi> von der Welt der Jdeeen, vom Reiche <lb n="pgo_098.016"/> des <hi rendition="#g">Geistes.</hi> Der einseitige Realismus schafft ein Kunstwerk, in welchem <lb n="pgo_098.017"/> die geistlose Natur herrscht; der einseitige Jdealismus eins, in welchem <lb n="pgo_098.018"/> der naturlose Geist herrscht. Nur der Bund von Beiden kann das <lb n="pgo_098.019"/> Schöne, die erscheinende Jdee, in ein wahres Kunstwerk bannen, in welchem, <lb n="pgo_098.020"/> je nach der Richtung der Zeit und der Begabung der Talente, wohl <lb n="pgo_098.021"/> der eine oder der andere zu einem Uebergewicht kommen kann, ohne indeß <lb n="pgo_098.022"/> die Harmonie aufzuheben. So herrscht z. B. bei <hi rendition="#g">Goethe</hi> der Realismus, <lb n="pgo_098.023"/> bei <hi rendition="#g">Schiller</hi> der Jdealismus vor, aber nicht bis zu einseitiger Störung; <lb n="pgo_098.024"/> denn Goethe hat einen „Faust“ geschrieben und Schiller „Wallenstein's <lb n="pgo_098.025"/> Lager.“ Jn der neuesten Zeit ist indeß der Realismus die Parole der <lb n="pgo_098.026"/> Kritik und die Losung des Tages geworden; er ist in einen ästhetischen <lb n="pgo_098.027"/> Materialismus ausgeartet; man hat den Jdealismus als Geisterseherei <lb n="pgo_098.028"/> geächtet und sucht sich überhaupt vom „Geist“ nach Art des Proktophantasmisten <lb n="pgo_098.029"/> im „Faust“ zu curiren, von dem Mephistopheles sagt:</p> <lb n="pgo_098.030"/> <lg> <l>Er wird sich gleich in eine Pfütze setzen,</l> <lb n="pgo_098.031"/> <l>Das ist die Art, wie er sich soulagirt,</l> <lb n="pgo_098.032"/> <l>Und wenn Blutegel sich an seinem Steiß ergetzen,</l> <lb n="pgo_098.033"/> <l>Jst er von Geistern und vom Geist curirt. —</l> </lg> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [98/0120]
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Tollhauses nur durch jene hohe, Alles durchdringende Besonnenheit gesondert pgo_098.002
ist, ohne welche sich freilich Shakespeare nicht von seinem Lear und pgo_098.003
seiner Ophelia unterscheiden würde!
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Dritter Abschnitt. pgo_098.005
Jdealismus und Realismus. pgo_098.006
Jndem die productive Phantasie einen Stoff aus der dichterischen pgo_098.007
Stoffwelt herausgreift und gestaltet, schafft sie das Kunstwerk, die pgo_098.008
Dichtung. Ehe wir indeß seine Form und Gliederung näher betrachten, pgo_098.009
müssen wir noch die allgemeinen Principien dichterischer Behandlungsweise pgo_098.010
in's Auge fassen. Hier bieten sich uns zunächst die beiden pgo_098.011
großen Gegensätze des Styls dar, die aus der Weltanschauung des Dichters pgo_098.012
hervorgehen, und deren Kampf in der neuesten Literatur heftiger als pgo_098.013
je entbrannt ist — wir meinen den Jdealismus und Realismus.
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Der Realismus geht von der Nachahmung der Natur und der pgo_098.015
Wirklichkeit aus, der Jdealismus von der Welt der Jdeeen, vom Reiche pgo_098.016
des Geistes. Der einseitige Realismus schafft ein Kunstwerk, in welchem pgo_098.017
die geistlose Natur herrscht; der einseitige Jdealismus eins, in welchem pgo_098.018
der naturlose Geist herrscht. Nur der Bund von Beiden kann das pgo_098.019
Schöne, die erscheinende Jdee, in ein wahres Kunstwerk bannen, in welchem, pgo_098.020
je nach der Richtung der Zeit und der Begabung der Talente, wohl pgo_098.021
der eine oder der andere zu einem Uebergewicht kommen kann, ohne indeß pgo_098.022
die Harmonie aufzuheben. So herrscht z. B. bei Goethe der Realismus, pgo_098.023
bei Schiller der Jdealismus vor, aber nicht bis zu einseitiger Störung; pgo_098.024
denn Goethe hat einen „Faust“ geschrieben und Schiller „Wallenstein's pgo_098.025
Lager.“ Jn der neuesten Zeit ist indeß der Realismus die Parole der pgo_098.026
Kritik und die Losung des Tages geworden; er ist in einen ästhetischen pgo_098.027
Materialismus ausgeartet; man hat den Jdealismus als Geisterseherei pgo_098.028
geächtet und sucht sich überhaupt vom „Geist“ nach Art des Proktophantasmisten pgo_098.029
im „Faust“ zu curiren, von dem Mephistopheles sagt:
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Er wird sich gleich in eine Pfütze setzen, pgo_098.031
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Und wenn Blutegel sich an seinem Steiß ergetzen, pgo_098.033
Jst er von Geistern und vom Geist curirt. —
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