pgo_125.001 "Julie." Wir können uns in die Handlungsweise dieser Charaktere pgo_125.002 nicht hineindenken, weil sie zu sehr der Sitte und dem natürlichen pgo_125.003 Empfinden widerspricht. Welch' ein grenzenloses Raffinement liegt in pgo_125.004 dem Benehmen einer Clara, die ihre Jungfräulichkeit aus Berechnung pgo_125.005 opfert, um sich die Treue des Geliebten zu sichern! Abgesehen davon, pgo_125.006 daß diese Berechnung nicht gerade von scharfem Verstande zeugt -- welch' pgo_125.007 einen Charakter, der allem Mädchenhaften widerspricht, setzt dies spekulative pgo_125.008 stuprum voraus! Wenn uns Hebbel dennoch seine Heldin als pgo_125.009 ein Wesen von zarter und schwärmerischer Empfindung schildert: so ist pgo_125.010 entweder die That, welche die Voraussetzung des ganzen Stückes ist, pgo_125.011 unmotivirt, oder der Charakter der Heldin selbst. Noch anomaler sind pgo_125.012 alle Voraussetzungen der "Julia" -- nur daß die Handlung hier sich mit pgo_125.013 jener folgerichtigen Absurdität entwickelt, die mit Nothwendigkeit aus pgo_125.014 dem Zusammenwirken lauter mit Spleen und Sparren behafteter Charaktere pgo_125.015 hervorgeht.
pgo_125.016 Der Dichter thut indeß wenig, wenn er nur die Folgerichtigkeit der pgo_125.017 Wirklichkeit beobachtet. Die Motivirung muß selbst ideal dem Geiste pgo_125.018 des Dichtwerkes entsprechen. Die Geschichte giebt oft einen Kausalnexus pgo_125.019 an die Hand, den der Dichter nicht brauchen kann, weil ihm die ideale pgo_125.020 Würde fehlt. Das Abschreiben der Wirklichkeit würde hier nur eine pgo_125.021 Tragikomödie erzeugen. Ein Tragödiendichter, der z. B. eine Verschwörung, pgo_125.022 eine großartige Staatsaction darstellen und dazu die Motive wählen pgo_125.023 wollte, die in der Restaurationszeit einen Plaignier zu einer Verschwörung pgo_125.024 gegen die Bourbons trieben, würde sich lächerlich machen, wie pgo_125.025 verbürgt auch immer ihre historische Wahrheit sei. Dieser Plaignierpgo_125.026 verschwor sich nämlich, wie uns Veron in seinen Memoiren erzählt, gegen pgo_125.027 Ludwig XVIII., weil seine Erfindung, die bottes a la hussarde, welche pgo_125.028 Kaiser Napoleon für die leichte Cavallerie anbefohlen hatte, von der pgo_125.029 Restauration wieder abgeschafft worden waren. Die Verschwörung wurde pgo_125.030 entdeckt und Plaignier hingerichtet. Eine Verschwörung mit solchem pgo_125.031 Ausgang ist ein tragischer Vorwurf; aber der Tragödiendichter kann sie pgo_125.032 nicht durch ein Verbot von Stiefelschäften und eine gekränkte Schuhmacherseele pgo_125.033 motiviren. Jm Lustspiele und im Roman muß die Motivirung pgo_125.034 mehr in's Einzelne gehen, als in der Tragödie, wo der ideale Flug pgo_125.035 der Gestalten leichter über die kleinen Zusammenhänge des realen Lebens
pgo_125.001 „Julie.“ Wir können uns in die Handlungsweise dieser Charaktere pgo_125.002 nicht hineindenken, weil sie zu sehr der Sitte und dem natürlichen pgo_125.003 Empfinden widerspricht. Welch' ein grenzenloses Raffinement liegt in pgo_125.004 dem Benehmen einer Clara, die ihre Jungfräulichkeit aus Berechnung pgo_125.005 opfert, um sich die Treue des Geliebten zu sichern! Abgesehen davon, pgo_125.006 daß diese Berechnung nicht gerade von scharfem Verstande zeugt — welch' pgo_125.007 einen Charakter, der allem Mädchenhaften widerspricht, setzt dies spekulative pgo_125.008 stuprum voraus! Wenn uns Hebbel dennoch seine Heldin als pgo_125.009 ein Wesen von zarter und schwärmerischer Empfindung schildert: so ist pgo_125.010 entweder die That, welche die Voraussetzung des ganzen Stückes ist, pgo_125.011 unmotivirt, oder der Charakter der Heldin selbst. Noch anomaler sind pgo_125.012 alle Voraussetzungen der „Julia“ — nur daß die Handlung hier sich mit pgo_125.013 jener folgerichtigen Absurdität entwickelt, die mit Nothwendigkeit aus pgo_125.014 dem Zusammenwirken lauter mit Spleen und Sparren behafteter Charaktere pgo_125.015 hervorgeht.
pgo_125.016 Der Dichter thut indeß wenig, wenn er nur die Folgerichtigkeit der pgo_125.017 Wirklichkeit beobachtet. Die Motivirung muß selbst ideal dem Geiste pgo_125.018 des Dichtwerkes entsprechen. Die Geschichte giebt oft einen Kausalnexus pgo_125.019 an die Hand, den der Dichter nicht brauchen kann, weil ihm die ideale pgo_125.020 Würde fehlt. Das Abschreiben der Wirklichkeit würde hier nur eine pgo_125.021 Tragikomödie erzeugen. Ein Tragödiendichter, der z. B. eine Verschwörung, pgo_125.022 eine großartige Staatsaction darstellen und dazu die Motive wählen pgo_125.023 wollte, die in der Restaurationszeit einen Plaignier zu einer Verschwörung pgo_125.024 gegen die Bourbons trieben, würde sich lächerlich machen, wie pgo_125.025 verbürgt auch immer ihre historische Wahrheit sei. Dieser Plaignierpgo_125.026 verschwor sich nämlich, wie uns Veron in seinen Memoiren erzählt, gegen pgo_125.027 Ludwig XVIII., weil seine Erfindung, die bottes à la hussarde, welche pgo_125.028 Kaiser Napoleon für die leichte Cavallerie anbefohlen hatte, von der pgo_125.029 Restauration wieder abgeschafft worden waren. Die Verschwörung wurde pgo_125.030 entdeckt und Plaignier hingerichtet. Eine Verschwörung mit solchem pgo_125.031 Ausgang ist ein tragischer Vorwurf; aber der Tragödiendichter kann sie pgo_125.032 nicht durch ein Verbot von Stiefelschäften und eine gekränkte Schuhmacherseele pgo_125.033 motiviren. Jm Lustspiele und im Roman muß die Motivirung pgo_125.034 mehr in's Einzelne gehen, als in der Tragödie, wo der ideale Flug pgo_125.035 der Gestalten leichter über die kleinen Zusammenhänge des realen Lebens
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„Julie.“ Wir können uns in die Handlungsweise dieser Charaktere pgo_125.002
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/147>, abgerufen am 21.11.2024.
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