Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.pgo_124.001 Atque ita mentitur, sic veris falsa remiscet, pgo_124.012 Primo ne medium, medio ne discrepet imum. pgo_124.013 pgo_124.001 Atque ita mentitur, sic veris falsa remiscet, pgo_124.012 Primo ne medium, medio ne discrepet imum. pgo_124.013 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0146" n="124"/><lb n="pgo_124.001"/> von <hi rendition="#g">Redwitz,</hi> läßt man sich auch im Märchen nicht gefallen, das kein <lb n="pgo_124.002"/> Wunder begehen darf blos um des Wunders willen. <hi rendition="#g">Jotham</hi> im <lb n="pgo_124.003"/> „Buch der Richter“ gründet darauf eine schöne Fabel, daß die Bäume <lb n="pgo_124.004"/> einen König wählen. Schiebt man den Bäumen einmal Sprache und <lb n="pgo_124.005"/> Willen unter, so ist das Weitere ganz folgerichtig ausgeführt. Der Oelbaum <lb n="pgo_124.006"/> lehnt die Wahl ab, weil er nicht seine Fettigkeit, der Feigenbaum, <lb n="pgo_124.007"/> weil er nicht seine Süßigkeit lassen will — jeder Baum spricht gemäß <lb n="pgo_124.008"/> seiner Natur und seinen Eigenschaften. Der Tannenbaum von Redwitz <lb n="pgo_124.009"/> ermangelt als ein confuses Symbol dieser Naturwahrheit. Schon Horaz <lb n="pgo_124.010"/> erwähnt von Homer:</p> <lb n="pgo_124.011"/> <lg> <l> <hi rendition="#aq">Atque ita mentitur, sic veris falsa remiscet,</hi> </l> <lb n="pgo_124.012"/> <l><hi rendition="#aq">Primo ne medium, medio ne discrepet imum</hi>.</l> </lg> <p><lb n="pgo_124.013"/> Die psychologische Folgerichtigkeit ist für die Motivirung in Roman <lb n="pgo_124.014"/> und Drama unerläßlich. Die Handlung ist ein Act des Willens; die <lb n="pgo_124.015"/> größere oder geringere Kraft des Willens, der gewohnte Kreis der Vorstellungen, <lb n="pgo_124.016"/> die ihn bestimmen, hängt aber von der ursprünglichen Grundlage <lb n="pgo_124.017"/> des Charakters ab. Nur der Dichter, der einen Charakter mit organischer <lb n="pgo_124.018"/> Einheit schafft, wird seine Handlungen folgerichtig motiviren. <lb n="pgo_124.019"/> Es bedarf hier für den einzelnen Fall keiner weiteren Erwägung. Ein <lb n="pgo_124.020"/> festausgeprägter Charakter läßt dem Dichter selbst keine Wahl, ob er ihn <lb n="pgo_124.021"/> so oder anders handeln lassen will. Shakespeare's Hamlet, der den <lb n="pgo_124.022"/> König gleich nach der Ansprache des Geistes im ersten Act erstäche, wäre <lb n="pgo_124.023"/> kein Hamlet mehr. Selbst die Naturbestimmtheit spielt hier eine große <lb n="pgo_124.024"/> Rolle. Den lahmen, buckligen Richard treibt das Bewußtsein seiner <lb n="pgo_124.025"/> Mißgestalt zum Verbrechen; der Mohr Othello darf mit größerem Recht <lb n="pgo_124.026"/> der Liebe seiner Gattin mißtrauen, und der dicke Fleischklumpen John <lb n="pgo_124.027"/> Fallstaff vom Humor des Materialismus übersprudeln. Jndeß würde <lb n="pgo_124.028"/> eine Beschränkung der Motivirung auf das Temperament, die Naturanlage, <lb n="pgo_124.029"/> das Körperliche die Poesie zu einem einseitigen Realismus verleiten, <lb n="pgo_124.030"/> wie er sich in vielen Werken der neuen französischen Schule und <lb n="pgo_124.031"/> ihrer Nachahmer ausspricht. Auf der anderen Seite kann die psychologische <lb n="pgo_124.032"/> Motivirung in ein gesuchtes Raffinement verfallen, welche bald <lb n="pgo_124.033"/> das Abweichende und Ungewöhnliche, bald das Allzufeine und Verwickelte <lb n="pgo_124.034"/> mit Vorliebe auswählt. Wir erinnern nur an die Motivirung <lb n="pgo_124.035"/> in Hebbel's „<hi rendition="#g">Maria Magdalena</hi>“ und besonders in seiner </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [124/0146]
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von Redwitz, läßt man sich auch im Märchen nicht gefallen, das kein pgo_124.002
Wunder begehen darf blos um des Wunders willen. Jotham im pgo_124.003
„Buch der Richter“ gründet darauf eine schöne Fabel, daß die Bäume pgo_124.004
einen König wählen. Schiebt man den Bäumen einmal Sprache und pgo_124.005
Willen unter, so ist das Weitere ganz folgerichtig ausgeführt. Der Oelbaum pgo_124.006
lehnt die Wahl ab, weil er nicht seine Fettigkeit, der Feigenbaum, pgo_124.007
weil er nicht seine Süßigkeit lassen will — jeder Baum spricht gemäß pgo_124.008
seiner Natur und seinen Eigenschaften. Der Tannenbaum von Redwitz pgo_124.009
ermangelt als ein confuses Symbol dieser Naturwahrheit. Schon Horaz pgo_124.010
erwähnt von Homer:
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Atque ita mentitur, sic veris falsa remiscet, pgo_124.012
Primo ne medium, medio ne discrepet imum.
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Die psychologische Folgerichtigkeit ist für die Motivirung in Roman pgo_124.014
und Drama unerläßlich. Die Handlung ist ein Act des Willens; die pgo_124.015
größere oder geringere Kraft des Willens, der gewohnte Kreis der Vorstellungen, pgo_124.016
die ihn bestimmen, hängt aber von der ursprünglichen Grundlage pgo_124.017
des Charakters ab. Nur der Dichter, der einen Charakter mit organischer pgo_124.018
Einheit schafft, wird seine Handlungen folgerichtig motiviren. pgo_124.019
Es bedarf hier für den einzelnen Fall keiner weiteren Erwägung. Ein pgo_124.020
festausgeprägter Charakter läßt dem Dichter selbst keine Wahl, ob er ihn pgo_124.021
so oder anders handeln lassen will. Shakespeare's Hamlet, der den pgo_124.022
König gleich nach der Ansprache des Geistes im ersten Act erstäche, wäre pgo_124.023
kein Hamlet mehr. Selbst die Naturbestimmtheit spielt hier eine große pgo_124.024
Rolle. Den lahmen, buckligen Richard treibt das Bewußtsein seiner pgo_124.025
Mißgestalt zum Verbrechen; der Mohr Othello darf mit größerem Recht pgo_124.026
der Liebe seiner Gattin mißtrauen, und der dicke Fleischklumpen John pgo_124.027
Fallstaff vom Humor des Materialismus übersprudeln. Jndeß würde pgo_124.028
eine Beschränkung der Motivirung auf das Temperament, die Naturanlage, pgo_124.029
das Körperliche die Poesie zu einem einseitigen Realismus verleiten, pgo_124.030
wie er sich in vielen Werken der neuen französischen Schule und pgo_124.031
ihrer Nachahmer ausspricht. Auf der anderen Seite kann die psychologische pgo_124.032
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mit Vorliebe auswählt. Wir erinnern nur an die Motivirung pgo_124.035
in Hebbel's „Maria Magdalena“ und besonders in seiner
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