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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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keusche und verschwiegene sein; der Satz vom Grunde muß nur als stillwirkende pgo_123.002
Kraft dem Zusammenhang des Kunstwerkes, wie dem der Natur pgo_123.003
untergebreitet sein; eine aufdringliche Motivirung hebt uns aus dem pgo_123.004
freien Aether der Poesie in das Reich der Prosa. Man muß nicht Alles, pgo_123.005
und man muß nicht zuviel motiviren wollen. Durch das erstere erhält pgo_123.006
das Kunstwerk einen kleinlichen, durch das letztere einen unklaren pgo_123.007
Charakter. Jn der Tragödie sind kleinliche Coulissenmotivirungen, wie pgo_123.008
wir sie in französischen Stücken finden, nicht berechtigt. Shakespeare pgo_123.009
und Schiller motiviren immer nur mit großen Zügen. Ja, Shakespeare pgo_123.010
motivirt oft zu wenig, wie er uns z. B. in Hamlet das Verhältniß zwischen pgo_123.011
dem Helden und seiner Ophelia nur durch Andeutungen klar macht, pgo_123.012
welche eine verschiedene Auffassung von Seiten der Ausleger hervorgerufen pgo_123.013
haben. Wer aber zuviel motivirt, z. B. im Drama einer Handlung pgo_123.014
mehrere gleichzeitige Beweggründe unterschiebt, der beleuchtet ein Bild pgo_123.015
mit mehreren Kerzen, deren sich kreuzender Glanz die Klarheit aufhebt.

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Die Motivirung muß folgerichtig sein; sie darf weder gegen die pgo_123.018
Logik des Naturgesetzes, noch gegen die des menschlichen Herzens verstoßen. pgo_123.019
Jn der Naturschilderung verlangen wir Treue und Korrectheit; pgo_123.020
wir wollen die Blumen nicht in einer Jahreszeit blühen sehen, in der sie pgo_123.021
in der Wirklichkeit nicht einmal Knospen treiben; das Kolorit eines exotischen pgo_123.022
Klima's muß uns mit jener Treue geschildert werden, welche der pgo_123.023
Physiognomik der Gewächse und der Pflanzengeographie Rechnung trägt. pgo_123.024
Der Lyriker, der seine Stimmung an ein Naturbild knüpft, muß ebenfalls pgo_123.025
diese innerlich waltende Motivirung beobachten. Jn der Ode können pgo_123.026
kühne Uebergänge der Gedanken und Empfindungen Statt finden; aber pgo_123.027
die Ergänzung der ausgelassenen Bilder, die Begründung ihres Zusammenhanges pgo_123.028
muß der Phantasie möglich sein, indem die Zwischenglieder pgo_123.029
schon durch den Organismus des Ganzen mitgegeben und gleichsam mit pgo_123.030
einer unsichtbaren Tinte geschrieben sind, die durch die Reagentien einer pgo_123.031
feurig erregten Phantasie hervortritt. Selbst in der Welt des Phantastischen pgo_123.032
und Märchenhaften muß eine gewisse Folgerichtigkeit vorherrschen, pgo_123.033
die den einmal angenommenen Voraussetzungen treu bleibt. Die traumhaft pgo_123.034
verzauberte Natur hört deshalb nicht auf, Natur zu sein -- und pgo_123.035
rückwärts fließende Bäche, wie in dem "Märchen vom Tannenbaum"

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und man muß nicht zuviel motiviren wollen. Durch das erstere erhält pgo_123.006
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diese innerlich waltende Motivirung beobachten. Jn der Ode können pgo_123.026
kühne Uebergänge der Gedanken und Empfindungen Statt finden; aber pgo_123.027
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und Märchenhaften muß eine gewisse Folgerichtigkeit vorherrschen, pgo_123.033
die den einmal angenommenen Voraussetzungen treu bleibt. Die traumhaft pgo_123.034
verzauberte Natur hört deshalb nicht auf, Natur zu sein — und pgo_123.035
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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/145>, abgerufen am 21.11.2024.