Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.pgo_143.001 Unermeßlich und unendlich, pgo_143.011 Glänzend, ruhig, ahnungsschwer, pgo_143.012 Liegst du vor mir ausgebreitet, pgo_143.013 Altes, heil'ges, ew'ges Meer! pgo_143.014 Fort, ihr edlen frohen Gäste pgo_143.020 pgo_143.023Zu dem seeisch! heitern Feste pgo_143.021 Blinkend, wo die Zitterwellen pgo_143.022 Ufernetzend leise schwellen! Du droben ewig-Unveraltete, pgo_143.024 Dreinamig-dreigestaltete, pgo_143.025 Du Brusterweiternde, im Tiefsten-sinnige, pgo_143.026 Du ruhig scheinende, gewaltsam innige! pgo_143.027 Verbräunt Gestein, bemodert, widrig, pgo_143.028 Spitzbögig, schnörkelhaftest, niedrig -- pgo_143.029 pgo_143.001 Unermeßlich und unendlich, pgo_143.011 Glänzend, ruhig, ahnungsschwer, pgo_143.012 Liegst du vor mir ausgebreitet, pgo_143.013 Altes, heil'ges, ew'ges Meer! pgo_143.014 Fort, ihr edlen frohen Gäste pgo_143.020 pgo_143.023Zu dem seeisch! heitern Feste pgo_143.021 Blinkend, wo die Zitterwellen pgo_143.022 Ufernetzend leise schwellen! Du droben ewig-Unveraltete, pgo_143.024 Dreinamig-dreigestaltete, pgo_143.025 Du Brusterweiternde, im Tiefsten-sinnige, pgo_143.026 Du ruhig scheinende, gewaltsam innige! pgo_143.027 Verbräunt Gestein, bemodert, widrig, pgo_143.028 Spitzbögig, schnörkelhaftest, niedrig — pgo_143.029 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0165" n="143"/><lb n="pgo_143.001"/><hi rendition="#g">unbegreiflich hold</hi> geben dem Ausdruck Anschaulichkeit und Jnnigkeit; <lb n="pgo_143.002"/> doch erkälten sie ebenso, wenn sie gezwungen und gesucht sind z. B. <lb n="pgo_143.003"/> <hi rendition="#g">drohend mächt'ge</hi> Runde, in <hi rendition="#g">frevelnd magischem</hi> Vertrauen, <lb n="pgo_143.004"/> <hi rendition="#g">heimlich kätzchenhaft begierlich</hi> (Faust, zweiter Theil). Eine <lb n="pgo_143.005"/> allzugroße Häufung der Adjectiva thut der Klarheit des Styles und des <lb n="pgo_143.006"/> Bildes Eintrag, um so mehr, wenn Synonyma zusammengestellt sind. <lb n="pgo_143.007"/> So ist folgende Stelle von <hi rendition="#g">Anastasius Grün</hi> fehlerhaft und schwülstig, <lb n="pgo_143.008"/> indem in ihr das Subject, das Meer, von <hi rendition="#g">acht</hi> Adjectiven fast <lb n="pgo_143.009"/> erdrückt wird:</p> <lb n="pgo_143.010"/> <lg> <l><hi rendition="#g">Unermeßlich</hi> und <hi rendition="#g">unendlich,</hi></l> <lb n="pgo_143.011"/> <l> <hi rendition="#g">Glänzend, ruhig, ahnungsschwer,</hi> </l> <lb n="pgo_143.012"/> <l>Liegst du vor mir ausgebreitet,</l> <lb n="pgo_143.013"/> <l><hi rendition="#g">Altes, heil'ges, ew'ges</hi> Meer!</l> </lg> <p><lb n="pgo_143.014"/> Durch solche Häufung von Eigenschaftswörtern, die oft an und für <lb n="pgo_143.015"/> sich gesucht, oft unnöthigerweise in den Superlativ gesetzt sind, zeichnet <lb n="pgo_143.016"/> sich der <hi rendition="#g">Styl</hi> des zweiten Theils von Goethe's Faust vorzugsweise aus. <lb n="pgo_143.017"/> Da der Dichter das schlagende Beiwort nicht fand, so suchte er die fehlende <lb n="pgo_143.018"/> Qualität durch die Quantität zu ersetzen:</p> <lb n="pgo_143.019"/> <lg> <l>Fort, ihr <hi rendition="#g">edlen frohen</hi> Gäste</l> <lb n="pgo_143.020"/> <l>Zu dem <hi rendition="#g">seeisch! heitern</hi> Feste</l> <lb n="pgo_143.021"/> <l><hi rendition="#g">Blinkend,</hi> wo die Zitterwellen</l> <lb n="pgo_143.022"/> <l> <hi rendition="#g">Ufernetzend leise schwellen!</hi> </l> </lg> <lb n="pgo_143.023"/> <lg> <l>Du droben <hi rendition="#g">ewig-Unveraltete,</hi></l> <lb n="pgo_143.024"/> <l> <hi rendition="#g">Dreinamig-dreigestaltete,</hi> </l> <lb n="pgo_143.025"/> <l>Du <hi rendition="#g">Brusterweiternde,</hi> im <hi rendition="#g">Tiefsten-sinnige,</hi></l> <lb n="pgo_143.026"/> <l>Du <hi rendition="#g">ruhig scheinende, gewaltsam innige!</hi></l> </lg> <lg> <lb n="pgo_143.027"/> <l><hi rendition="#g">Verbräunt</hi> Gestein, <hi rendition="#g">bemodert, widrig,</hi></l> <lb n="pgo_143.028"/> <l><hi rendition="#g">Spitzbögig, schnörkelhaftest, niedrig</hi> —</l> </lg> <p><lb n="pgo_143.029"/> Der Superlativ: <hi rendition="#g">schnörkelhaftest</hi> paßt für all' diese Adjectivbildungen <lb n="pgo_143.030"/> und Häufungen im zweiten Theile des Faust, die ebensoviele <lb n="pgo_143.031"/> Marotten eines altersschwachen Styles sind. Der <hi rendition="#g">Superlativ</hi> dient <lb n="pgo_143.032"/> in der Dichtung selten dazu, den Positiv zu verstärken; in der Regel giebt <lb n="pgo_143.033"/> er einen steifen, kanzleiartigen Anstrich und erinnert an submissest und <lb n="pgo_143.034"/> devotest. Der zweite Theil des „Faust“ wimmelt von Superlativen, die </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [143/0165]
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unbegreiflich hold geben dem Ausdruck Anschaulichkeit und Jnnigkeit; pgo_143.002
doch erkälten sie ebenso, wenn sie gezwungen und gesucht sind z. B. pgo_143.003
drohend mächt'ge Runde, in frevelnd magischem Vertrauen, pgo_143.004
heimlich kätzchenhaft begierlich (Faust, zweiter Theil). Eine pgo_143.005
allzugroße Häufung der Adjectiva thut der Klarheit des Styles und des pgo_143.006
Bildes Eintrag, um so mehr, wenn Synonyma zusammengestellt sind. pgo_143.007
So ist folgende Stelle von Anastasius Grün fehlerhaft und schwülstig, pgo_143.008
indem in ihr das Subject, das Meer, von acht Adjectiven fast pgo_143.009
erdrückt wird:
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Unermeßlich und unendlich, pgo_143.011
Glänzend, ruhig, ahnungsschwer, pgo_143.012
Liegst du vor mir ausgebreitet, pgo_143.013
Altes, heil'ges, ew'ges Meer!
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Durch solche Häufung von Eigenschaftswörtern, die oft an und für pgo_143.015
sich gesucht, oft unnöthigerweise in den Superlativ gesetzt sind, zeichnet pgo_143.016
sich der Styl des zweiten Theils von Goethe's Faust vorzugsweise aus. pgo_143.017
Da der Dichter das schlagende Beiwort nicht fand, so suchte er die fehlende pgo_143.018
Qualität durch die Quantität zu ersetzen:
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Fort, ihr edlen frohen Gäste pgo_143.020
Zu dem seeisch! heitern Feste pgo_143.021
Blinkend, wo die Zitterwellen pgo_143.022
Ufernetzend leise schwellen!
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Du droben ewig-Unveraltete, pgo_143.024
Dreinamig-dreigestaltete, pgo_143.025
Du Brusterweiternde, im Tiefsten-sinnige, pgo_143.026
Du ruhig scheinende, gewaltsam innige!
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Verbräunt Gestein, bemodert, widrig, pgo_143.028
Spitzbögig, schnörkelhaftest, niedrig —
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Der Superlativ: schnörkelhaftest paßt für all' diese Adjectivbildungen pgo_143.030
und Häufungen im zweiten Theile des Faust, die ebensoviele pgo_143.031
Marotten eines altersschwachen Styles sind. Der Superlativ dient pgo_143.032
in der Dichtung selten dazu, den Positiv zu verstärken; in der Regel giebt pgo_143.033
er einen steifen, kanzleiartigen Anstrich und erinnert an submissest und pgo_143.034
devotest. Der zweite Theil des „Faust“ wimmelt von Superlativen, die
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