Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite
pgo_167.001
Jener Lorber wand sich einst um Hülfe, pgo_167.002
Tantal's Tochter schweigt in diesem Stein, pgo_167.003
Syrinx' Klage tönt aus jenem Schilfe, pgo_167.004
Philomela's Schmerz aus diesem Hain.
pgo_167.005
Jener Bach empfing Demeter's Zähre, pgo_167.006
Die sie um Persephonen geweint, pgo_167.007
Und von diesem Hügel rief Cythere -- pgo_167.008
Ach! umsonst dem schönen Freund!

pgo_167.009
Doch auch neuere Dichter können, besonders in größeren gedankenvollen pgo_167.010
Schöpfungen, dies Bild nicht entbehren. So ist der Erdgeist im pgo_167.011
"Faust," so sind die Geister in Byron's Manfred keine Allegorieen, sondern pgo_167.012
personificirte Natur- und Gedankenmächte. Eine niedliche, wie aus pgo_167.013
Elfenbein geschnitzte Personifikation ist die "Königin Mab" des Mercutio. pgo_167.014
Auch die hebräische Poesie giebt ihrem persönlichen Gott eine Fülle persönlichen pgo_167.015
Lebens. Alles, was die Theologie "Anthropomorphismen" pgo_167.016
nennt, muß die Aesthetik in unser Bild einreihen. Die Psalmen und pgo_167.017
Propheten sind reich an großen und erhabenen Bildern, in welchen die pgo_167.018
Naturerscheinungen als Thaten des persönlichen Gottes dargestellt pgo_167.019
werden:

pgo_167.020
Da bebte die Erde, pgo_167.021
Die erschütterte Erde, pgo_167.022
Es wankten die Füße der Berge, pgo_167.023
Sie erzitterten seinem Zorn.
pgo_167.024
Er schnaubete Dampf empor, pgo_167.025
Verzehrende Gluth pgo_167.026
Entströmte seinem Mund in der Wetter Schlag.
pgo_167.027
Er neigete die Himmel pgo_167.028
Und fuhr herab, pgo_167.029
Und Dunkel war pgo_167.030
Unter seinen Füßen.
pgo_167.031
Er schwebete auf Cherubim! pgo_167.032
Er flog einher pgo_167.033
Auf Fittigen des Sturmes u. s. f.
pgo_167.034

(17ter Psalm nach Stolberg.)

pgo_167.001
Jener Lorber wand sich einst um Hülfe, pgo_167.002
Tantal's Tochter schweigt in diesem Stein, pgo_167.003
Syrinx' Klage tönt aus jenem Schilfe, pgo_167.004
Philomela's Schmerz aus diesem Hain.
pgo_167.005
Jener Bach empfing Demeter's Zähre, pgo_167.006
Die sie um Persephonen geweint, pgo_167.007
Und von diesem Hügel rief Cythere — pgo_167.008
Ach! umsonst dem schönen Freund!

pgo_167.009
Doch auch neuere Dichter können, besonders in größeren gedankenvollen pgo_167.010
Schöpfungen, dies Bild nicht entbehren. So ist der Erdgeist im pgo_167.011
„Faust,“ so sind die Geister in Byron's Manfred keine Allegorieen, sondern pgo_167.012
personificirte Natur- und Gedankenmächte. Eine niedliche, wie aus pgo_167.013
Elfenbein geschnitzte Personifikation ist die „Königin Mab“ des Mercutio. pgo_167.014
Auch die hebräische Poesie giebt ihrem persönlichen Gott eine Fülle persönlichen pgo_167.015
Lebens. Alles, was die Theologie „Anthropomorphismen“ pgo_167.016
nennt, muß die Aesthetik in unser Bild einreihen. Die Psalmen und pgo_167.017
Propheten sind reich an großen und erhabenen Bildern, in welchen die pgo_167.018
Naturerscheinungen als Thaten des persönlichen Gottes dargestellt pgo_167.019
werden:

pgo_167.020
Da bebte die Erde, pgo_167.021
Die erschütterte Erde, pgo_167.022
Es wankten die Füße der Berge, pgo_167.023
Sie erzitterten seinem Zorn.
pgo_167.024
Er schnaubete Dampf empor, pgo_167.025
Verzehrende Gluth pgo_167.026
Entströmte seinem Mund in der Wetter Schlag.
pgo_167.027
Er neigete die Himmel pgo_167.028
Und fuhr herab, pgo_167.029
Und Dunkel war pgo_167.030
Unter seinen Füßen.
pgo_167.031
Er schwebete auf Cherubim! pgo_167.032
Er flog einher pgo_167.033
Auf Fittigen des Sturmes u. s. f.
pgo_167.034

(17ter Psalm nach Stolberg.)

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <pb facs="#f0189" n="167"/>
                  <lb n="pgo_167.001"/>
                  <lg>
                    <l>Jener Lorber wand sich einst um Hülfe,</l>
                    <lb n="pgo_167.002"/>
                    <l>Tantal's Tochter schweigt in diesem Stein,</l>
                    <lb n="pgo_167.003"/>
                    <l>Syrinx' Klage tönt aus jenem Schilfe,</l>
                    <lb n="pgo_167.004"/>
                    <l>Philomela's Schmerz aus diesem Hain.</l>
                  </lg>
                  <lg>
                    <lb n="pgo_167.005"/>
                    <l>Jener Bach empfing Demeter's Zähre,</l>
                    <lb n="pgo_167.006"/>
                    <l>Die sie um Persephonen geweint,</l>
                    <lb n="pgo_167.007"/>
                    <l>Und von diesem Hügel rief Cythere &#x2014;</l>
                    <lb n="pgo_167.008"/>
                    <l>Ach! umsonst dem schönen Freund!</l>
                  </lg>
                  <p><lb n="pgo_167.009"/>
Doch auch neuere Dichter können, besonders in größeren gedankenvollen <lb n="pgo_167.010"/>
Schöpfungen, dies Bild nicht entbehren. So ist der Erdgeist im <lb n="pgo_167.011"/>
&#x201E;Faust,&#x201C; so sind die Geister in Byron's Manfred keine Allegorieen, sondern <lb n="pgo_167.012"/>
personificirte Natur- und Gedankenmächte. Eine niedliche, wie aus <lb n="pgo_167.013"/>
Elfenbein geschnitzte Personifikation ist die &#x201E;Königin Mab&#x201C; des Mercutio. <lb n="pgo_167.014"/>
Auch die hebräische Poesie giebt ihrem persönlichen Gott eine Fülle persönlichen <lb n="pgo_167.015"/>
Lebens. Alles, was die Theologie &#x201E;Anthropomorphismen&#x201C; <lb n="pgo_167.016"/>
nennt, muß die Aesthetik in unser Bild einreihen. Die Psalmen und <lb n="pgo_167.017"/>
Propheten sind reich an großen und erhabenen Bildern, in welchen die <lb n="pgo_167.018"/>
Naturerscheinungen als <hi rendition="#g">Thaten</hi> des persönlichen Gottes dargestellt <lb n="pgo_167.019"/>
werden:</p>
                  <lb n="pgo_167.020"/>
                  <lg>
                    <l>Da bebte die Erde,</l>
                    <lb n="pgo_167.021"/>
                    <l>Die erschütterte Erde,</l>
                    <lb n="pgo_167.022"/>
                    <l>Es wankten die Füße der Berge,</l>
                    <lb n="pgo_167.023"/>
                    <l>Sie erzitterten seinem Zorn.</l>
                  </lg>
                  <lg>
                    <lb n="pgo_167.024"/>
                    <l>Er schnaubete Dampf empor,</l>
                    <lb n="pgo_167.025"/>
                    <l>Verzehrende Gluth</l>
                    <lb n="pgo_167.026"/>
                    <l>Entströmte seinem Mund in der Wetter Schlag.</l>
                  </lg>
                  <lg>
                    <lb n="pgo_167.027"/>
                    <l>Er neigete die Himmel</l>
                    <lb n="pgo_167.028"/>
                    <l>Und fuhr herab,</l>
                    <lb n="pgo_167.029"/>
                    <l>Und Dunkel war</l>
                    <lb n="pgo_167.030"/>
                    <l>Unter seinen Füßen.</l>
                  </lg>
                  <lg>
                    <lb n="pgo_167.031"/>
                    <l>Er schwebete auf Cherubim!</l>
                    <lb n="pgo_167.032"/>
                    <l>Er flog einher</l>
                    <lb n="pgo_167.033"/>
                    <l>Auf Fittigen des Sturmes u. s. f.</l>
                  </lg>
                  <lb n="pgo_167.034"/>
                  <p> <hi rendition="#right">(17ter Psalm nach <hi rendition="#g">Stolberg</hi>.)</hi> </p>
                </div>
                <div n="6">
</div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[167/0189] pgo_167.001 Jener Lorber wand sich einst um Hülfe, pgo_167.002 Tantal's Tochter schweigt in diesem Stein, pgo_167.003 Syrinx' Klage tönt aus jenem Schilfe, pgo_167.004 Philomela's Schmerz aus diesem Hain. pgo_167.005 Jener Bach empfing Demeter's Zähre, pgo_167.006 Die sie um Persephonen geweint, pgo_167.007 Und von diesem Hügel rief Cythere — pgo_167.008 Ach! umsonst dem schönen Freund! pgo_167.009 Doch auch neuere Dichter können, besonders in größeren gedankenvollen pgo_167.010 Schöpfungen, dies Bild nicht entbehren. So ist der Erdgeist im pgo_167.011 „Faust,“ so sind die Geister in Byron's Manfred keine Allegorieen, sondern pgo_167.012 personificirte Natur- und Gedankenmächte. Eine niedliche, wie aus pgo_167.013 Elfenbein geschnitzte Personifikation ist die „Königin Mab“ des Mercutio. pgo_167.014 Auch die hebräische Poesie giebt ihrem persönlichen Gott eine Fülle persönlichen pgo_167.015 Lebens. Alles, was die Theologie „Anthropomorphismen“ pgo_167.016 nennt, muß die Aesthetik in unser Bild einreihen. Die Psalmen und pgo_167.017 Propheten sind reich an großen und erhabenen Bildern, in welchen die pgo_167.018 Naturerscheinungen als Thaten des persönlichen Gottes dargestellt pgo_167.019 werden: pgo_167.020 Da bebte die Erde, pgo_167.021 Die erschütterte Erde, pgo_167.022 Es wankten die Füße der Berge, pgo_167.023 Sie erzitterten seinem Zorn. pgo_167.024 Er schnaubete Dampf empor, pgo_167.025 Verzehrende Gluth pgo_167.026 Entströmte seinem Mund in der Wetter Schlag. pgo_167.027 Er neigete die Himmel pgo_167.028 Und fuhr herab, pgo_167.029 Und Dunkel war pgo_167.030 Unter seinen Füßen. pgo_167.031 Er schwebete auf Cherubim! pgo_167.032 Er flog einher pgo_167.033 Auf Fittigen des Sturmes u. s. f. pgo_167.034 (17ter Psalm nach Stolberg.)

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/189
Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 167. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/189>, abgerufen am 21.11.2024.