Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.pgo_169.001 Da stürmte heran so dunkel und tief pgo_169.002 pgo_169.005Mit allen Rossen des Karos Heer, pgo_169.003 Vor seinem Laufe versiegen die Bäche, pgo_169.004 Die Erde dröhnt und zittert umher. Ossian. pgo_169.006 Ein Paar der schönsten Stern' am ganzen Himmel pgo_169.017 Wird ausgesandt und bittet Julien's Augen pgo_169.018 Jn ihren Kreisen unterdeß zu funkeln. pgo_169.019 Doch wären ihre Augen dort, die Sterne pgo_169.020 Jn ihrem Antlitz? Würde nicht der Glanz pgo_169.021 Von ihren Wangen jene so beschämen, pgo_169.022 Wie Sonnenlicht die Lampe? Würd' ihr Aug' pgo_169.023 Aus luft'gen Höh'n sich nicht so hell ergießen, pgo_169.024 Daß Vögel sängen, froh den Tag zu grüßen? pgo_169.025 Komm, milde, liebevolle Nacht! Komm, gieb pgo_169.028 Mir meinen Romeo! Und stirbt er einst, pgo_169.029 Nimm' ihn, zertheil' in kleine Sterne ihn. pgo_169.030 Er wird des Himmels Antlitz so verschönen pgo_169.031 Daß alle Welt sich in die Nacht verliebt pgo_169.032 Und Niemand mehr der eitlen Sonne huldigt. pgo_169.033 pgo_169.037 pgo_169.001 Da stürmte heran so dunkel und tief pgo_169.002 pgo_169.005Mit allen Rossen des Karos Heer, pgo_169.003 Vor seinem Laufe versiegen die Bäche, pgo_169.004 Die Erde dröhnt und zittert umher. Ossian. pgo_169.006 Ein Paar der schönsten Stern' am ganzen Himmel pgo_169.017 Wird ausgesandt und bittet Julien's Augen pgo_169.018 Jn ihren Kreisen unterdeß zu funkeln. pgo_169.019 Doch wären ihre Augen dort, die Sterne pgo_169.020 Jn ihrem Antlitz? Würde nicht der Glanz pgo_169.021 Von ihren Wangen jene so beschämen, pgo_169.022 Wie Sonnenlicht die Lampe? Würd' ihr Aug' pgo_169.023 Aus luft'gen Höh'n sich nicht so hell ergießen, pgo_169.024 Daß Vögel sängen, froh den Tag zu grüßen? pgo_169.025 Komm, milde, liebevolle Nacht! Komm, gieb pgo_169.028 Mir meinen Romeo! Und stirbt er einst, pgo_169.029 Nimm' ihn, zertheil' in kleine Sterne ihn. pgo_169.030 Er wird des Himmels Antlitz so verschönen pgo_169.031 Daß alle Welt sich in die Nacht verliebt pgo_169.032 Und Niemand mehr der eitlen Sonne huldigt. pgo_169.033 pgo_169.037 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <pb facs="#f0191" n="169"/> <lb n="pgo_169.001"/> <lg> <l>Da stürmte heran so dunkel und tief</l> <lb n="pgo_169.002"/> <l>Mit allen Rossen des Karos Heer,</l> <lb n="pgo_169.003"/> <l>Vor seinem Laufe versiegen die Bäche,</l> <lb n="pgo_169.004"/> <l>Die Erde dröhnt und zittert umher.</l> </lg> <lb n="pgo_169.005"/> <p> <hi rendition="#right"><hi rendition="#g">Ossian</hi>.</hi> </p> <p><lb n="pgo_169.006"/> Diese naive Hyperbel gehört mehr der Schilderung an. Die Hyperbel <lb n="pgo_169.007"/> der Reflexion aber ist unmittelbarer Ausdruck der Leidenschaft, die <lb n="pgo_169.008"/> indeß in ihren heftigen Ausbrüchen doch immer einen Schatten von Kritik <lb n="pgo_169.009"/> bewahrt, indem sie das übertriebene Bild nicht direkt, sondern <hi rendition="#g">bedingungsweise</hi> <lb n="pgo_169.010"/> hinstellt. Dieser Art sind die meisten Hyperbeln bei <lb n="pgo_169.011"/> <hi rendition="#g">Shakespeare.</hi> Die Phantasie beschreibt einen Kreis von unmöglichen <lb n="pgo_169.012"/> Voraussetzungen, und nachdem sie so die Ansprüche der sinnlichen Wahrheit <lb n="pgo_169.013"/> ein für allemal abgewiesen, ergeht sie sich frei in ihrem hyperbolischen <lb n="pgo_169.014"/> Schwung. So phantasirt die Liebesleidenschaft von Romeo und <lb n="pgo_169.015"/> von Julie in die Sternennacht hinein. Romeo sagt:</p> <lb n="pgo_169.016"/> <lg> <l>Ein Paar der schönsten Stern' am ganzen Himmel</l> <lb n="pgo_169.017"/> <l>Wird ausgesandt und bittet Julien's Augen</l> <lb n="pgo_169.018"/> <l>Jn ihren Kreisen unterdeß zu funkeln.</l> <lb n="pgo_169.019"/> <l>Doch wären ihre Augen dort, die Sterne</l> <lb n="pgo_169.020"/> <l>Jn ihrem Antlitz? Würde nicht der Glanz</l> <lb n="pgo_169.021"/> <l>Von ihren Wangen jene so beschämen,</l> <lb n="pgo_169.022"/> <l>Wie Sonnenlicht die Lampe? Würd' ihr Aug'</l> <lb n="pgo_169.023"/> <l>Aus luft'gen Höh'n sich nicht so hell ergießen,</l> <lb n="pgo_169.024"/> <l>Daß Vögel sängen, froh den Tag zu grüßen?</l> </lg> <p><lb n="pgo_169.025"/> Julie bleibt in ihrem späteren Monolog die hyperbolische Antistrophe <lb n="pgo_169.026"/> nicht schuldig:</p> <lb n="pgo_169.027"/> <lg> <l>Komm, milde, liebevolle Nacht! Komm, gieb</l> <lb n="pgo_169.028"/> <l>Mir meinen Romeo! 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Da stürmte heran so dunkel und tief pgo_169.002
Mit allen Rossen des Karos Heer, pgo_169.003
Vor seinem Laufe versiegen die Bäche, pgo_169.004
Die Erde dröhnt und zittert umher.
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Ossian.
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Diese naive Hyperbel gehört mehr der Schilderung an. Die Hyperbel pgo_169.007
der Reflexion aber ist unmittelbarer Ausdruck der Leidenschaft, die pgo_169.008
indeß in ihren heftigen Ausbrüchen doch immer einen Schatten von Kritik pgo_169.009
bewahrt, indem sie das übertriebene Bild nicht direkt, sondern bedingungsweise pgo_169.010
hinstellt. Dieser Art sind die meisten Hyperbeln bei pgo_169.011
Shakespeare. Die Phantasie beschreibt einen Kreis von unmöglichen pgo_169.012
Voraussetzungen, und nachdem sie so die Ansprüche der sinnlichen Wahrheit pgo_169.013
ein für allemal abgewiesen, ergeht sie sich frei in ihrem hyperbolischen pgo_169.014
Schwung. So phantasirt die Liebesleidenschaft von Romeo und pgo_169.015
von Julie in die Sternennacht hinein. Romeo sagt:
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Ein Paar der schönsten Stern' am ganzen Himmel pgo_169.017
Wird ausgesandt und bittet Julien's Augen pgo_169.018
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Doch wären ihre Augen dort, die Sterne pgo_169.020
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Von ihren Wangen jene so beschämen, pgo_169.022
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Daß Vögel sängen, froh den Tag zu grüßen?
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Julie bleibt in ihrem späteren Monolog die hyperbolische Antistrophe pgo_169.026
nicht schuldig:
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Diese Hyperbeln, zu denen Calderon und die orientalische Lyrik zahlreiche pgo_169.034
Zusätze geben kann, gehören der zergliedernden Sophistik der Leidenschaft pgo_169.035
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Uebermaaß in ein freies Spiel der Phantasie ergießt.
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Die stumme Kritik des Unmöglichen spricht sich in jenen zahlreichen
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