Da stürmte heran so dunkel und tiefpgo_169.002 Mit allen Rossen des Karos Heer,pgo_169.003 Vor seinem Laufe versiegen die Bäche,pgo_169.004 Die Erde dröhnt und zittert umher.
pgo_169.005
Ossian.
pgo_169.006 Diese naive Hyperbel gehört mehr der Schilderung an. Die Hyperbel pgo_169.007 der Reflexion aber ist unmittelbarer Ausdruck der Leidenschaft, die pgo_169.008 indeß in ihren heftigen Ausbrüchen doch immer einen Schatten von Kritik pgo_169.009 bewahrt, indem sie das übertriebene Bild nicht direkt, sondern bedingungsweisepgo_169.010 hinstellt. Dieser Art sind die meisten Hyperbeln bei pgo_169.011 Shakespeare. Die Phantasie beschreibt einen Kreis von unmöglichen pgo_169.012 Voraussetzungen, und nachdem sie so die Ansprüche der sinnlichen Wahrheit pgo_169.013 ein für allemal abgewiesen, ergeht sie sich frei in ihrem hyperbolischen pgo_169.014 Schwung. So phantasirt die Liebesleidenschaft von Romeo und pgo_169.015 von Julie in die Sternennacht hinein. Romeo sagt:
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Ein Paar der schönsten Stern' am ganzen Himmelpgo_169.017 Wird ausgesandt und bittet Julien's Augenpgo_169.018 Jn ihren Kreisen unterdeß zu funkeln.pgo_169.019 Doch wären ihre Augen dort, die Sternepgo_169.020 Jn ihrem Antlitz? Würde nicht der Glanzpgo_169.021 Von ihren Wangen jene so beschämen,pgo_169.022 Wie Sonnenlicht die Lampe? Würd' ihr Aug'pgo_169.023 Aus luft'gen Höh'n sich nicht so hell ergießen,pgo_169.024 Daß Vögel sängen, froh den Tag zu grüßen?
pgo_169.025 Julie bleibt in ihrem späteren Monolog die hyperbolische Antistrophe pgo_169.026 nicht schuldig:
pgo_169.027
Komm, milde, liebevolle Nacht! Komm, giebpgo_169.028 Mir meinen Romeo! Und stirbt er einst,pgo_169.029 Nimm' ihn, zertheil' in kleine Sterne ihn.pgo_169.030 Er wird des Himmels Antlitz so verschönenpgo_169.031 Daß alle Welt sich in die Nacht verliebtpgo_169.032 Und Niemand mehr der eitlen Sonne huldigt.
pgo_169.033 Diese Hyperbeln, zu denen Calderon und die orientalische Lyrik zahlreiche pgo_169.034 Zusätze geben kann, gehören der zergliedernden Sophistik der Leidenschaft pgo_169.035 an, dem Scholasticismus der Liebe, der Empfindung, die ihr pgo_169.036 Uebermaaß in ein freies Spiel der Phantasie ergießt.
pgo_169.037 Die stumme Kritik des Unmöglichen spricht sich in jenen zahlreichen
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Da stürmte heran so dunkel und tiefpgo_169.002 Mit allen Rossen des Karos Heer,pgo_169.003 Vor seinem Laufe versiegen die Bäche,pgo_169.004 Die Erde dröhnt und zittert umher.
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Ossian.
pgo_169.006 Diese naive Hyperbel gehört mehr der Schilderung an. Die Hyperbel pgo_169.007 der Reflexion aber ist unmittelbarer Ausdruck der Leidenschaft, die pgo_169.008 indeß in ihren heftigen Ausbrüchen doch immer einen Schatten von Kritik pgo_169.009 bewahrt, indem sie das übertriebene Bild nicht direkt, sondern bedingungsweisepgo_169.010 hinstellt. Dieser Art sind die meisten Hyperbeln bei pgo_169.011 Shakespeare. Die Phantasie beschreibt einen Kreis von unmöglichen pgo_169.012 Voraussetzungen, und nachdem sie so die Ansprüche der sinnlichen Wahrheit pgo_169.013 ein für allemal abgewiesen, ergeht sie sich frei in ihrem hyperbolischen pgo_169.014 Schwung. So phantasirt die Liebesleidenschaft von Romeo und pgo_169.015 von Julie in die Sternennacht hinein. Romeo sagt:
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Ein Paar der schönsten Stern' am ganzen Himmelpgo_169.017 Wird ausgesandt und bittet Julien's Augenpgo_169.018 Jn ihren Kreisen unterdeß zu funkeln.pgo_169.019 Doch wären ihre Augen dort, die Sternepgo_169.020 Jn ihrem Antlitz? Würde nicht der Glanzpgo_169.021 Von ihren Wangen jene so beschämen,pgo_169.022 Wie Sonnenlicht die Lampe? Würd' ihr Aug'pgo_169.023 Aus luft'gen Höh'n sich nicht so hell ergießen,pgo_169.024 Daß Vögel sängen, froh den Tag zu grüßen?
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Komm, milde, liebevolle Nacht! Komm, giebpgo_169.028 Mir meinen Romeo! Und stirbt er einst,pgo_169.029 Nimm' ihn, zertheil' in kleine Sterne ihn.pgo_169.030 Er wird des Himmels Antlitz so verschönenpgo_169.031 Daß alle Welt sich in die Nacht verliebtpgo_169.032 Und Niemand mehr der eitlen Sonne huldigt.
pgo_169.033 Diese Hyperbeln, zu denen Calderon und die orientalische Lyrik zahlreiche pgo_169.034 Zusätze geben kann, gehören der zergliedernden Sophistik der Leidenschaft pgo_169.035 an, dem Scholasticismus der Liebe, der Empfindung, die ihr pgo_169.036 Uebermaaß in ein freies Spiel der Phantasie ergießt.
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Mit allen Rossen des Karos Heer, pgo_169.003
Vor seinem Laufe versiegen die Bäche, pgo_169.004
Die Erde dröhnt und zittert umher.
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Diese naive Hyperbel gehört mehr der Schilderung an. Die Hyperbel pgo_169.007
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 169. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/191>, abgerufen am 16.07.2024.
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