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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Vierter Abschnitt.
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Vers und Reim.

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Die Dichtkunst hat die selbstständige Musik der Sprache in ihren pgo_198.004
Dienst genommen und ausgebildet. Jm Rhythmus trägt sie auf die pgo_198.005
Sprache, durch die Wiederkehr derselben Momente, ein ideales Zeitverhältniß pgo_198.006
über und entbindet, unter diesem Taktschema, die Stärke und pgo_198.007
Schwäche der Sprach-Elemente zu einem musikalischen Gange; im pgo_198.008
Reime aber läßt sie die Klangfähigkeit der Sprache zu ihrem Rechte pgo_198.009
kommen und erzeugt, durch die Wiederholung derselben Klänge, einen pgo_198.010
sprachlichen Akkord, der sowohl die Grenze des einzelnen Verses schärfer pgo_198.011
markirt, als auch das Gefühl koncentriren hilft.

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Der Rhythmus wird also zunächst wie ein abstraktes Schema über pgo_198.013
die Sprache ausgebreitet; er ist eine auf die Sprache angewendete Zeit- pgo_198.014
Eintheilung. Es kommt nun darauf an, welche Elemente der Sprache pgo_198.015
er zu ihrer Belebung gebrauchen kann, und in der That unterscheiden pgo_198.016
sich hiernach die beiden Hauptsysteme der Rhythmik -- das altklassische pgo_198.017
und das romanisch-germanische. Die regelmäßige pgo_198.018
Wiederkehr der Längen und Kürzen, welche den Rhythmus hervorruft, pgo_198.019
macht es zunächst nothwendig, die Längen und Kürzen zu bestimmen. pgo_198.020
Die Plastik der Griechen und Römer gab auch gleichsam der pgo_198.021
Sprache einen schönen Leib; sie maß die Sylben nach ihrer Quantität pgo_198.022
mit aller Strenge und bestimmte ihre Länge und Kürze nach feststehenden pgo_198.023
Grundsätzen der Messung für die Poesie, abweichend von der Aussprache pgo_198.024
des gewöhnlichen Lebens. Jede Sylbe hatte ihre kanonische Bedeutung pgo_198.025
in der Prosodie, und nur durch die Stellung, die Position, durch welche pgo_198.026
kurze Sylben lang werden konnten, kam eine etwas freiere Bewegung pgo_198.027
in diese stereotype Welt des strengen Maaßes. Dabei kam es auf die pgo_198.028
Bedeutung der Sylben im Worte oder als Wörter nicht an: die kleine pgo_198.029
Partikel konnte lang sein, während das zweisilbige Adjectivum aus zwei pgo_198.030
Kürzen bestand; die Stammsylbe kurz, während eine der abgeleiteten pgo_198.031
Flexionssylben als Länge gemessen wurde. Es war, als ob die Sprache pgo_198.032
sich einer besondern Leiblichkeit erfreute und dieser Leib, wie der plastische pgo_198.033
Leib der olympischen Ringer und der meerentsteigenden Phrynen, seine pgo_198.034
eigene Seele habe.

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Der Rhythmus wird also zunächst wie ein abstraktes Schema über pgo_198.013
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sich einer besondern Leiblichkeit erfreute und dieser Leib, wie der plastische pgo_198.033
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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 198. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/220>, abgerufen am 24.11.2024.