Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.pgo_001.001 pgo_001.002Einleitung. Geschichte der Poetik. pgo_001.003 Die ersten Dichter folgten in naiver Weise den Eingebungen der pgo_001.004 Begeisterung; das kritische Bewußtsein, das bei jeder freien Schöpfung pgo_001.005 vorhanden, war noch unzertrennlich mit der Jnspiration verknüpft. Dem pgo_001.006 Vorbild des Genius folgten die minder begabten Nachahmer, welche mit pgo_001.007 diesem Vorbilde zugleich die in Fleisch und Blut verwandelte ästhetische pgo_001.008 Regel überkamen. pgo_001.009 pgo_001.018 pgo_001.001 pgo_001.002Einleitung. Geschichte der Poetik. pgo_001.003 Die ersten Dichter folgten in naiver Weise den Eingebungen der pgo_001.004 Begeisterung; das kritische Bewußtsein, das bei jeder freien Schöpfung pgo_001.005 vorhanden, war noch unzertrennlich mit der Jnspiration verknüpft. Dem pgo_001.006 Vorbild des Genius folgten die minder begabten Nachahmer, welche mit pgo_001.007 diesem Vorbilde zugleich die in Fleisch und Blut verwandelte ästhetische pgo_001.008 Regel überkamen. pgo_001.009 pgo_001.018 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0023" n="E1"/> <head> <hi rendition="#c"><lb n="pgo_001.001"/> Einleitung.</hi> </head> <lb n="pgo_001.002"/> <head> <hi rendition="#c">Geschichte der Poetik. </hi> </head> <p><lb/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb n="pgo_001.003"/> Die ersten Dichter folgten in naiver Weise den Eingebungen der <lb n="pgo_001.004"/> Begeisterung; das kritische Bewußtsein, das bei jeder freien Schöpfung <lb n="pgo_001.005"/> vorhanden, war noch unzertrennlich mit der Jnspiration verknüpft. Dem <lb n="pgo_001.006"/> Vorbild des Genius folgten die minder begabten Nachahmer, welche mit <lb n="pgo_001.007"/> diesem Vorbilde zugleich die in Fleisch und Blut verwandelte ästhetische <lb n="pgo_001.008"/> Regel überkamen.</p> <p><lb n="pgo_001.009"/> Am wenigsten war die orientalische Poesie, welche, wie jenes Riesenbild <lb n="pgo_001.010"/> des Sohns der Morgenröthe unter den egyptischen Mimosen bei <lb n="pgo_001.011"/> den Berührungen des ersten Sonnenstrahls, hymnenartig bei den <lb n="pgo_001.012"/> Berührungen des Göttlichen ertönte, welche es in ihren Schöpfungen <lb n="pgo_001.013"/> kaum zu organischer Gliederung brachte, dazu geeignet, ein klares <lb n="pgo_001.014"/> Bewußtsein in Bezug auf die Gesetze des Schönen wach zu rufen. Erst <lb n="pgo_001.015"/> als in Hellas die Kunst ihre klassische Blüthe erreicht, ja schon wieder <lb n="pgo_001.016"/> hinter sich hatte, trat die Philosophie auf, um uns über das Wesen des <lb n="pgo_001.017"/> Schönen und die Grundgesetze der einzelnen Dichtgattungen zu belehren.</p> <p><lb n="pgo_001.018"/> Eigenthümlich ist das Verhalten der beiden größten griechischen Denker <lb n="pgo_001.019"/> zur Poesie. Der dichterische <hi rendition="#g">Plato</hi> wollte die Dichter aus seiner <lb n="pgo_001.020"/> vollkommenen Republik verbannen, weil sie lügen und verkehrte Vorstellungen <lb n="pgo_001.021"/> verbreiten; der nüchterne, streng logische <hi rendition="#g">Aristoteles</hi> erwies <lb n="pgo_001.022"/> der Poesie die Ehre, sie in einem Werke von drei Büchern, von denen <lb n="pgo_001.023"/> uns leider! nur eins im Auszuge erhalten ist, einer wissenschaftlichen <lb n="pgo_001.024"/> Untersuchung zu unterziehn. Dieser Widerspruch erklärt sich nur daraus, <lb n="pgo_001.025"/> daß die ganze Platonische Weltanschauung und besonders seine Politik <lb n="pgo_001.026"/> mit Poesie durchdrungen und gesättigt war und daher für die Poesie keine <lb n="pgo_001.027"/> besondere Stätte übrig blieb. Gleichwohl hat Plato über das Wesen <lb n="pgo_001.028"/> des Schönen die tiefsten Ahnungen gehabt, sowie Aristoteles die Grundsätze </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [E1/0023]
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Einleitung. pgo_001.002
Geschichte der Poetik.
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Die ersten Dichter folgten in naiver Weise den Eingebungen der pgo_001.004
Begeisterung; das kritische Bewußtsein, das bei jeder freien Schöpfung pgo_001.005
vorhanden, war noch unzertrennlich mit der Jnspiration verknüpft. Dem pgo_001.006
Vorbild des Genius folgten die minder begabten Nachahmer, welche mit pgo_001.007
diesem Vorbilde zugleich die in Fleisch und Blut verwandelte ästhetische pgo_001.008
Regel überkamen.
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Am wenigsten war die orientalische Poesie, welche, wie jenes Riesenbild pgo_001.010
des Sohns der Morgenröthe unter den egyptischen Mimosen bei pgo_001.011
den Berührungen des ersten Sonnenstrahls, hymnenartig bei den pgo_001.012
Berührungen des Göttlichen ertönte, welche es in ihren Schöpfungen pgo_001.013
kaum zu organischer Gliederung brachte, dazu geeignet, ein klares pgo_001.014
Bewußtsein in Bezug auf die Gesetze des Schönen wach zu rufen. Erst pgo_001.015
als in Hellas die Kunst ihre klassische Blüthe erreicht, ja schon wieder pgo_001.016
hinter sich hatte, trat die Philosophie auf, um uns über das Wesen des pgo_001.017
Schönen und die Grundgesetze der einzelnen Dichtgattungen zu belehren.
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Eigenthümlich ist das Verhalten der beiden größten griechischen Denker pgo_001.019
zur Poesie. Der dichterische Plato wollte die Dichter aus seiner pgo_001.020
vollkommenen Republik verbannen, weil sie lügen und verkehrte Vorstellungen pgo_001.021
verbreiten; der nüchterne, streng logische Aristoteles erwies pgo_001.022
der Poesie die Ehre, sie in einem Werke von drei Büchern, von denen pgo_001.023
uns leider! nur eins im Auszuge erhalten ist, einer wissenschaftlichen pgo_001.024
Untersuchung zu unterziehn. Dieser Widerspruch erklärt sich nur daraus, pgo_001.025
daß die ganze Platonische Weltanschauung und besonders seine Politik pgo_001.026
mit Poesie durchdrungen und gesättigt war und daher für die Poesie keine pgo_001.027
besondere Stätte übrig blieb. Gleichwohl hat Plato über das Wesen pgo_001.028
des Schönen die tiefsten Ahnungen gehabt, sowie Aristoteles die Grundsätze
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