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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Dumpfheit befreien kann, die auf ihr lastet. Erst als sich zur Lyra, Cither pgo_251.002
und Flöte das melodische Wort gesellte, wurde der Zauber der Stimmung pgo_251.003
gelöst; denn erst die ausgesprochene Stimmung befreit die Seele. pgo_251.004
Jst dies schon bei der einfachen Aussprache der Fall, um wievielmehr pgo_251.005
bei der künstlerischen, in welcher wir uns einer Stimmung nicht blos entäußern, pgo_251.006
sondern sie in ein ideales Gebiet, in das der Schönheit, versetzen, pgo_251.007
wo sie sich in einer höheren Harmonie auflöst. Das menschliche Gemüth pgo_251.008
hat seine dunkeln, unergründlichen Regionen; es steht in unleugbarem pgo_251.009
Zusammenhang mit den Zuständen des Körpers. Oft ist seine Stimmung pgo_251.010
nur ein krankhaftes Vibriren der Nervensaiten, und die Rembrandtschen pgo_251.011
Schatten, die über die Erde fallen, kommen oft nur von Stockungen pgo_251.012
des Blutumlaufs. Es ist nicht ohne Bedeutung, daß die Alten die pgo_251.013
Melancholie von der schwarzen Galle herleiteten und den Herd der dichterischen pgo_251.014
Begeisterung, des Vaticiniums, in der Leber suchten. Die pgo_251.015
Stimmung des Gemüthes als solche wurzelt daher in verhüllten Naturtiefen, pgo_251.016
sie ist an und für sich unfrei und ungeläutert, und auch da, wo sie pgo_251.017
von den Höhen kommt, und nicht aus der Tiefe, wo sie sich an einer pgo_251.018
Berührung der geistigen Welt, der Natur, des Herzens entzündet, noch pgo_251.019
allen Zufälligkeiten und wechselnden Einflüssen der Körperwelt unterworfen. pgo_251.020
Erst wenn sie künstlerische Gestalt gewonnen, wenn gleichsam pgo_251.021
die Nabelschnur der Materie gelöst ist, und sie freien Pulsschlag, freien pgo_251.022
Athemzug, eigenthümliches Leben im Reiche der Dichtung erlangt: dann pgo_251.023
ist das Gemüth nicht nur von ihr befreit, steht ihr nicht nur als einer pgo_251.024
fremden gegenüber, sondern es findet sich selbst in ungeahnter Verklärung pgo_251.025
wieder, sieht seine Empfindungen der Erdschwere entnommen und in einen pgo_251.026
freieren Aether gebannt, und dem flüchtigen Spiel eine schöne Dauer pgo_251.027
gegeben. Das ist die Bedeutung der Lyrik überhaupt nicht nur für den pgo_251.028
Dichter, sondern auch für den Hörer, der diese Befreiung der Seele mitempfindet. pgo_251.029
Die innere Gemüthswelt wird mit ihren Störungen und pgo_251.030
Trübungen in ein ideales Licht gerückt, in welchem selbst ihre Schatten zu pgo_251.031
einem harmonischen Ganzen verschmelzen. So reich nun der Jnhalt der pgo_251.032
Empfindung ist, so reich ist der Jnhalt der Lyrik. Je vielseitiger pgo_251.033
gebildet der Geist, je zarter besaitet das Gemüth: desto reicher wird die pgo_251.034
Welt sein, die in der dichterischen Empfindung aufgeht. Von den Naturlauten pgo_251.035
der Volkspoesie bis zu den gedankenvollen Rhythmen eines auf

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Dumpfheit befreien kann, die auf ihr lastet. Erst als sich zur Lyra, Cither pgo_251.002
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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 251. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/273>, abgerufen am 22.11.2024.