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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Dante hat seine vita nuova gedichtet, und wie lyrisch sind Shakespeare pgo_265.002
und Schiller! Dagegen kann es einem sehr begabten Lyriker nicht gelingen, pgo_265.003
der epischen Plastik Herr zu werden oder den straffen Bogen der pgo_265.004
dramatischen Form zu spannen -- man denke z. B. an Byron, pgo_265.005
Uhland, Rückert.
Die Begabung des Lyrikers besteht nun in der pgo_265.006
Lebendigkeit der phantasievollen Anschauung, der Jnnigkeit und Wärme pgo_265.007
des Gefühles und dem Sinn für die Melodie der Sprache, vor Allem pgo_265.008
aber in der Begeisterung, welche diese drei Momente in Eins setzt. Die pgo_265.009
Lebendigkeit der Phantasie erfaßt jeden Stoff sogleich von der Seite, wo pgo_265.010
er ein lebensvolles Bild gewährt; die Jnnigkeit des Gefühles versetzt ihn pgo_265.011
sogleich auf den Boden der Stimmung, deren inneres Erzittern sich in pgo_265.012
der rhythmischen Melodie der Sprache spiegelt. Je weniger der Stoff selbst pgo_265.013
im Kreise des alltäglichen Empfindens liegt, desto größer ist die Energie pgo_265.014
des Lyrikers, der ihn zu beherrschen, in das Fleisch und Blut der eigenen pgo_265.015
Stimmung zu verwandeln weiß. Es ist dies ein chemischer Proceß, der pgo_265.016
durch das elektrische Fluidum der Begeisterung blitzartig vollzogen wird. pgo_265.017
Darum sind nicht diejenigen Lyriker, welche Freud' und Leid des eigenen pgo_265.018
Herzens, die Jnteressen eines beschränkten Lebenskreises aussingen, die pgo_265.019
Begabtesten, sondern die, welche die Angelegenheiten der Menschheit so pgo_265.020
zu ihren eigenen gemacht haben, daß bei ihrer begeisterten Feier das pgo_265.021
eigene Gemüth in seinen Tiefen ertönt. Der Flug hoher lyrischer Begabungen pgo_265.022
geht weit über den Dichterwald hinaus, in welchem "es von pgo_265.023
allen Zweigen tönt." Das Aussingen der eigenen trivialen Stimmung pgo_265.024
ist das gute Recht eines Jeden, das man ihm nicht verleiden soll, wenn pgo_265.025
es nur nicht Anspruch auf künstlerische Geltung macht. Gerade in der pgo_265.026
Lyrik ist bei den ausgeprägten Formen einer Sprache, "die für uns dichtet pgo_265.027
und denkt," die Grenze zwischen Talent und Dilettantismus schwer pgo_265.028
zu ziehn. Eine Kritik, welche mit abstrakten Maaßstäben an die Gedichte pgo_265.029
geht, wird hierin meistens fehlgreifen; nur die freie Empfindung für pgo_265.030
"Duft" und "Blume" der Poesie kann hier das Richtige treffen. Das pgo_265.031
Talent hat ein unbeschreibliches "Arom," das auch dem glattesten und pgo_265.032
korrektesten Dilettantismus fehlt. Das Talent kann große Fehler machen, pgo_265.033
der Dilettantismus fehlerfreie Werke erzeugen -- und doch ist die Kluft pgo_265.034
zwischen beiden unübersteiglich. Es giebt dilettantische Richtungen, welche pgo_265.035
im Gefühl ihrer Ohnmacht von einem wahren Hasse gegen das Talent

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[265/0287] pgo_265.001 Dante hat seine vita nuova gedichtet, und wie lyrisch sind Shakespeare pgo_265.002 und Schiller! Dagegen kann es einem sehr begabten Lyriker nicht gelingen, pgo_265.003 der epischen Plastik Herr zu werden oder den straffen Bogen der pgo_265.004 dramatischen Form zu spannen — man denke z. B. an Byron, pgo_265.005 Uhland, Rückert. Die Begabung des Lyrikers besteht nun in der pgo_265.006 Lebendigkeit der phantasievollen Anschauung, der Jnnigkeit und Wärme pgo_265.007 des Gefühles und dem Sinn für die Melodie der Sprache, vor Allem pgo_265.008 aber in der Begeisterung, welche diese drei Momente in Eins setzt. Die pgo_265.009 Lebendigkeit der Phantasie erfaßt jeden Stoff sogleich von der Seite, wo pgo_265.010 er ein lebensvolles Bild gewährt; die Jnnigkeit des Gefühles versetzt ihn pgo_265.011 sogleich auf den Boden der Stimmung, deren inneres Erzittern sich in pgo_265.012 der rhythmischen Melodie der Sprache spiegelt. Je weniger der Stoff selbst pgo_265.013 im Kreise des alltäglichen Empfindens liegt, desto größer ist die Energie pgo_265.014 des Lyrikers, der ihn zu beherrschen, in das Fleisch und Blut der eigenen pgo_265.015 Stimmung zu verwandeln weiß. Es ist dies ein chemischer Proceß, der pgo_265.016 durch das elektrische Fluidum der Begeisterung blitzartig vollzogen wird. pgo_265.017 Darum sind nicht diejenigen Lyriker, welche Freud' und Leid des eigenen pgo_265.018 Herzens, die Jnteressen eines beschränkten Lebenskreises aussingen, die pgo_265.019 Begabtesten, sondern die, welche die Angelegenheiten der Menschheit so pgo_265.020 zu ihren eigenen gemacht haben, daß bei ihrer begeisterten Feier das pgo_265.021 eigene Gemüth in seinen Tiefen ertönt. Der Flug hoher lyrischer Begabungen pgo_265.022 geht weit über den Dichterwald hinaus, in welchem „es von pgo_265.023 allen Zweigen tönt.“ Das Aussingen der eigenen trivialen Stimmung pgo_265.024 ist das gute Recht eines Jeden, das man ihm nicht verleiden soll, wenn pgo_265.025 es nur nicht Anspruch auf künstlerische Geltung macht. Gerade in der pgo_265.026 Lyrik ist bei den ausgeprägten Formen einer Sprache, „die für uns dichtet pgo_265.027 und denkt,“ die Grenze zwischen Talent und Dilettantismus schwer pgo_265.028 zu ziehn. Eine Kritik, welche mit abstrakten Maaßstäben an die Gedichte pgo_265.029 geht, wird hierin meistens fehlgreifen; nur die freie Empfindung für pgo_265.030 „Duft“ und „Blume“ der Poesie kann hier das Richtige treffen. Das pgo_265.031 Talent hat ein unbeschreibliches „Arom,“ das auch dem glattesten und pgo_265.032 korrektesten Dilettantismus fehlt. Das Talent kann große Fehler machen, pgo_265.033 der Dilettantismus fehlerfreie Werke erzeugen — und doch ist die Kluft pgo_265.034 zwischen beiden unübersteiglich. Es giebt dilettantische Richtungen, welche pgo_265.035 im Gefühl ihrer Ohnmacht von einem wahren Hasse gegen das Talent

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 265. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/287>, abgerufen am 22.11.2024.