pgo_269.001 wie sie Gruppe aus dem nicht durchgearbeiteten Buche Nemesis zu entziffern pgo_269.002 bemüht ist. Er folgt zuerst der Begeisterung und wirft die Hauptpartieen pgo_269.003 mit gleicher Wärme in einem Gusse hin. Die Verbindungsglieder pgo_269.004 dagegen, die Uebergänge, die leiseren Schattirungen, die größere pgo_269.005 Feile des Ganzen überläßt er einer zweiten Arbeit, welche mit Besonnenheit pgo_269.006 und künstlerischer Ueberlegung den Entwurf ausführt. Kleinere pgo_269.007 lyrische Gedichte mögen in einem Gusse gelingen; größere bedürfen pgo_269.008 ebenso des ununterbrochenen Schwunges im Ganzen, wie der nachhelfenden pgo_269.009 Ausfüllung und Ausfeilung im Einzelnen.
pgo_269.010 Jeder Dichter, auch der lyrische, ist der Sohn seiner Zeit; er steht auf pgo_269.011 ihrem Kulturstandpunkte, er wird sich von ihrer Empfindungsweise nicht pgo_269.012 freimachen können. Ein bedeutendes Talent mag wohl selbst auf die pgo_269.013 Schattirungen der Empfindung bestimmend einwirken; aber der Grund pgo_269.014 und Boden der Weltanschauung ist ihm doch immer durch das Jahrhundert pgo_269.015 gegeben. Man kann dem konservativsten aller Denker, Herbart, pgo_269.016 gewiß nicht darin beistimmen, daß Nichts oder wenig Neues unter der pgo_269.017 Sonne geschehe, und daß im Alten, Gleichförmigen das Wesen der pgo_269.018 Menschheit und die Mitgabe der Gottheit zu suchen seien, denn das pgo_269.019 Neue liegt nicht in den Dingen an sich, sondern in der Auffassungsweise, pgo_269.020 und hier quillt eine unerschöpfliche Fülle geistigen Lebens der Einzelnen, pgo_269.021 der Völker und Zeiten; hier beginnt erst die Weltgeschichte, deren tieferes pgo_269.022 Verständniß jener nüchternen Einsicht verschlossen ist; hier beginnt erst die pgo_269.023 Poesie und ihr glänzender Reichthum. Jede Zeit, jedes Volk, jeder Einzelne pgo_269.024 hat dies Arom einer unsagbaren Eigenheit; mit jedem Einzelnen pgo_269.025 wird eine neue Welt geboren! Wie kleinlich und falsch wäre die Behauptung pgo_269.026 des Anatomen, der aus der Gleichheit des Skeletts auf die Gleichheit pgo_269.027 der Menschen schlösse! Und ebenso unfruchtbar für jedes Gebiet, pgo_269.028 besonders für das der Poesie, ist eine Weltanschauung, die nur das Alte pgo_269.029 und Gleichförmige im Auge behält! Die Poesie ist keine Domaine des pgo_269.030 Goethe'schen "Palaeophron," sondern sie gehört der jugendlichen "Neoterpe." pgo_269.031 Obgleich man glauben sollte, daß, trotz der wechselnden geistigenpgo_269.032 Strömungen und Entwickelungen, die Magnetnadel der Empfindungpgo_269.033 in allen Jahrhunderten nach denselben unwandelbaren Polen pgo_269.034 vibriren müsse: so steht die Poesie der Empfindung, die Lyrik, doch in pgo_269.035 einem bestimmten und deshalb wechselnden Verhältniß zur Kultur und
pgo_269.001 wie sie Gruppe aus dem nicht durchgearbeiteten Buche Nemesis zu entziffern pgo_269.002 bemüht ist. Er folgt zuerst der Begeisterung und wirft die Hauptpartieen pgo_269.003 mit gleicher Wärme in einem Gusse hin. Die Verbindungsglieder pgo_269.004 dagegen, die Uebergänge, die leiseren Schattirungen, die größere pgo_269.005 Feile des Ganzen überläßt er einer zweiten Arbeit, welche mit Besonnenheit pgo_269.006 und künstlerischer Ueberlegung den Entwurf ausführt. Kleinere pgo_269.007 lyrische Gedichte mögen in einem Gusse gelingen; größere bedürfen pgo_269.008 ebenso des ununterbrochenen Schwunges im Ganzen, wie der nachhelfenden pgo_269.009 Ausfüllung und Ausfeilung im Einzelnen.
pgo_269.010 Jeder Dichter, auch der lyrische, ist der Sohn seiner Zeit; er steht auf pgo_269.011 ihrem Kulturstandpunkte, er wird sich von ihrer Empfindungsweise nicht pgo_269.012 freimachen können. Ein bedeutendes Talent mag wohl selbst auf die pgo_269.013 Schattirungen der Empfindung bestimmend einwirken; aber der Grund pgo_269.014 und Boden der Weltanschauung ist ihm doch immer durch das Jahrhundert pgo_269.015 gegeben. Man kann dem konservativsten aller Denker, Herbart, pgo_269.016 gewiß nicht darin beistimmen, daß Nichts oder wenig Neues unter der pgo_269.017 Sonne geschehe, und daß im Alten, Gleichförmigen das Wesen der pgo_269.018 Menschheit und die Mitgabe der Gottheit zu suchen seien, denn das pgo_269.019 Neue liegt nicht in den Dingen an sich, sondern in der Auffassungsweise, pgo_269.020 und hier quillt eine unerschöpfliche Fülle geistigen Lebens der Einzelnen, pgo_269.021 der Völker und Zeiten; hier beginnt erst die Weltgeschichte, deren tieferes pgo_269.022 Verständniß jener nüchternen Einsicht verschlossen ist; hier beginnt erst die pgo_269.023 Poesie und ihr glänzender Reichthum. Jede Zeit, jedes Volk, jeder Einzelne pgo_269.024 hat dies Arom einer unsagbaren Eigenheit; mit jedem Einzelnen pgo_269.025 wird eine neue Welt geboren! Wie kleinlich und falsch wäre die Behauptung pgo_269.026 des Anatomen, der aus der Gleichheit des Skeletts auf die Gleichheit pgo_269.027 der Menschen schlösse! Und ebenso unfruchtbar für jedes Gebiet, pgo_269.028 besonders für das der Poesie, ist eine Weltanschauung, die nur das Alte pgo_269.029 und Gleichförmige im Auge behält! Die Poesie ist keine Domaine des pgo_269.030 Goethe'schen „Palaeophron,“ sondern sie gehört der jugendlichen „Neoterpe.“ pgo_269.031 Obgleich man glauben sollte, daß, trotz der wechselnden geistigenpgo_269.032 Strömungen und Entwickelungen, die Magnetnadel der Empfindungpgo_269.033 in allen Jahrhunderten nach denselben unwandelbaren Polen pgo_269.034 vibriren müsse: so steht die Poesie der Empfindung, die Lyrik, doch in pgo_269.035 einem bestimmten und deshalb wechselnden Verhältniß zur Kultur und
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 269. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/291>, abgerufen am 22.11.2024.
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