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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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zum Bewußtsein der Zeit. Tibull empfand anders, als Walther pgo_270.002
von der Vogelweide, und dieser anders, als Schiller und Goethe. pgo_270.003
Dies leugnen wollen heißt die Empfindung auf ihre rohesten Aeußerungen pgo_270.004
beschränken. Der Lyriker soll auf der Höhe seiner Zeit stehn -- erst dann pgo_270.005
wird seine Lyrik einen wahrhaft großartigen und bedeutenden Charakter pgo_270.006
annehmen, seine Empfindung einen allseitigen Anklang bei den Zeitgenossen pgo_270.007
und bei der Nachwelt finden. Diese Wahrheit, die durch alle pgo_270.008
großen Muster bestätigt wird, findet eine eifrige Gegnerschaft und wird pgo_270.009
ebenso oft angegriffen, wie nicht beachtet. Daher diese Masse Unkraut, pgo_270.010
die der Teufel des Dilettantismus unter den poetischen Weizen sät! Es pgo_270.011
mag jedem unbenommen bleiben, den Horaz und Properz, den Dante pgo_270.012
und Baki und Motenebbi in Geist und Formen nachzudichten -- diese pgo_270.013
Exercitien haben gewiß ihren formellen Werth; nur mögen sie nicht mit pgo_270.014
der Prätension auftreten, lyrische Muster des 19. Jahrhunderts zu sein! pgo_270.015
Es ist segenbringend für den Poeten, die großen Vorbilder aller Zeiten pgo_270.016
zu studiren, aber traurig, wenn ihm von den Trauben ihres Feuerweins pgo_270.017
nur die Kerne im Halse stecken bleiben oder sein Chylus und Chymus zu pgo_270.018
schwach sind, um sich vollkommen den Göttertrank anzueignen, der nur pgo_270.019
als dilettantisches Vomitiv wieder zum Vorschein kommt. Darum pgo_270.020
stellen wir die Lyrik des neunzehnten Jahrhunderts hoch über die Lyrik pgo_270.021
des achtzehnten, weil sie sich in ihren Hauptvertretern ganz auf den Boden pgo_270.022
der Gegenwart stellt und all' das mythologische Beiwerk abgestreift hat, pgo_270.023
das dem Fluge des Schiller'schen und Goethe'schen Genius noch als pgo_270.024
unverdauter Ueberrest klassischer Studien anhaftete. Wohl hat Uhland pgo_270.025
oft Töne angeschlagen, die allzu minniglich und ritterlich für die Gegenwart pgo_270.026
klingen und seine Bilder hin und wieder mit meerblauer Romantik pgo_270.027
gemalt; wohl hat Rückert sich in das Formennetz des Orientes bis pgo_270.028
zur Unkenntlichkeit seiner eigenen dichterischen Chrysalide eingesponnen; pgo_270.029
wohl hat ihr Vorbild zahlreiche germanistische und orientalische Nachdichtungen pgo_270.030
hervorgerufen -- aber die Heroen der modernen Lyrik, Heine, pgo_270.031
Lenau, Grün, Freiligrath, Geibel, Dingelstedt
und ihre Nachtreter pgo_270.032
haben in ihren Gedichten den Geist der Gegenwart, ihre vergänglichsten pgo_270.033
Stimmungen, aber auch ihre erhabensten Anwandlungen verewigt. pgo_270.034
Selbst Platen hat in oft gekünstelten Formen stets Stoffe der pgo_270.035
Zeit gefeiert -- und so ungenießbar seine antikisirenden Odenstrophen sein

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 270. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/292>, abgerufen am 25.11.2024.