Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

pgo_281.001
männlicher und weiblicher Reime einen etwas beweglicheren und minder pgo_281.002
strengen Charakter erhalten. Vierzeilige Strophen mit einfach verschlungenen pgo_281.003
Reimen entsprechen am meisten der anmuthigen Einfachheit pgo_281.004
des Liedes.

pgo_281.005
Auch widerspricht es nicht dem sangbaren Charakter des Liedes, daß pgo_281.006
die zweite Hälfte der Strophe, besonders der vom Chor zu singende pgo_281.007
Refrain in einem andern Versmaaß gedichtet ist, wie wir dies in vielen pgo_281.008
Volks- und geselligen Liedern finden. Dagegen ist der Pomp oft wiederholter pgo_281.009
und kunstvoll verschlungener Reime mit dem Wesen des Liedes pgo_281.010
durchaus unverträglich. Es ist daher unbegreiflich, wie zahlreiche Aesthetiker, pgo_281.011
unter ihnen auch Hillebrand in seiner: "Literar-Aesthetik" das Sonett pgo_281.012
als eine Unterart des "Liedes" betrachten konnten. Eher dürfte das pgo_281.013
lyrische Epigramm, das Madrigal, das in kein solches monotones pgo_281.014
Vers- und Reimschema eingezwängt war, hier eine Stätte finden, indem, pgo_281.015
wie wir schon gesehen, eine frappante lyrische Pointe, ein schalkhaftes pgo_281.016
Austönen im Liede vollkommen berechtigt ist, welches sogar einen durchaus pgo_281.017
komischen Jnhalt in sich aufzunehmen vermag. Wir wollen jetzt pgo_281.018
einige Unterscheidungen des Liedes und geschichtliche Gestalten desselben pgo_281.019
näher in's Auge fassen.

pgo_281.020
1. Das Volkslied und Kunstlied.

pgo_281.021
Das Lied als unmittelbarer Erguß des Herzens setzt keine tiefere pgo_281.022
Bildung voraus; im Gegentheil, sein Quell kann am frischesten in einem pgo_281.023
unbefangenen, mit der Natur noch träumerisch verwachsenen Gemüthe pgo_281.024
sprudeln! Dann erinnert es an den Gesang des Vogels, der auf den pgo_281.025
Zweigen singt. Die Natur und die eigene Empfindung, die Welt der pgo_281.026
Sage, mit welcher der Sänger groß geworden, sind die Quellen des pgo_281.027
Volksliedes, dessen kunstlose Naivetät, wie aromatischer Waldduft, pgo_281.028
das Gemüth gefangen nimmt. Zugleich liegt im Volksliede die Sehnsucht pgo_281.029
nach einem noch unerschlossenen Reiche der Bildung, und das giebt pgo_281.030
ihm einen neuen wehmüthigen Reiz. Was in diesen Volksliedern indeß pgo_281.031
echt lyrisch ist: das sind seine verschleierten Uebergänge, seine sinnigen pgo_281.032
Andeutungen, dies träumerische Herübergehn vom Naturbild zum Ereigniß pgo_281.033
des Herzens. Dadurch erhält auch seine Form etwas Knappes, pgo_281.034
Gedrungenes, Sangbares; der wiederkehrende Refrain hält die Einheit

pgo_281.001
männlicher und weiblicher Reime einen etwas beweglicheren und minder pgo_281.002
strengen Charakter erhalten. Vierzeilige Strophen mit einfach verschlungenen pgo_281.003
Reimen entsprechen am meisten der anmuthigen Einfachheit pgo_281.004
des Liedes.

pgo_281.005
Auch widerspricht es nicht dem sangbaren Charakter des Liedes, daß pgo_281.006
die zweite Hälfte der Strophe, besonders der vom Chor zu singende pgo_281.007
Refrain in einem andern Versmaaß gedichtet ist, wie wir dies in vielen pgo_281.008
Volks- und geselligen Liedern finden. Dagegen ist der Pomp oft wiederholter pgo_281.009
und kunstvoll verschlungener Reime mit dem Wesen des Liedes pgo_281.010
durchaus unverträglich. Es ist daher unbegreiflich, wie zahlreiche Aesthetiker, pgo_281.011
unter ihnen auch Hillebrand in seiner: „Literar-Aesthetik“ das Sonett pgo_281.012
als eine Unterart des „Liedes“ betrachten konnten. Eher dürfte das pgo_281.013
lyrische Epigramm, das Madrigal, das in kein solches monotones pgo_281.014
Vers- und Reimschema eingezwängt war, hier eine Stätte finden, indem, pgo_281.015
wie wir schon gesehen, eine frappante lyrische Pointe, ein schalkhaftes pgo_281.016
Austönen im Liede vollkommen berechtigt ist, welches sogar einen durchaus pgo_281.017
komischen Jnhalt in sich aufzunehmen vermag. Wir wollen jetzt pgo_281.018
einige Unterscheidungen des Liedes und geschichtliche Gestalten desselben pgo_281.019
näher in's Auge fassen.

pgo_281.020
1. Das Volkslied und Kunstlied.

pgo_281.021
Das Lied als unmittelbarer Erguß des Herzens setzt keine tiefere pgo_281.022
Bildung voraus; im Gegentheil, sein Quell kann am frischesten in einem pgo_281.023
unbefangenen, mit der Natur noch träumerisch verwachsenen Gemüthe pgo_281.024
sprudeln! Dann erinnert es an den Gesang des Vogels, der auf den pgo_281.025
Zweigen singt. Die Natur und die eigene Empfindung, die Welt der pgo_281.026
Sage, mit welcher der Sänger groß geworden, sind die Quellen des pgo_281.027
Volksliedes, dessen kunstlose Naivetät, wie aromatischer Waldduft, pgo_281.028
das Gemüth gefangen nimmt. Zugleich liegt im Volksliede die Sehnsucht pgo_281.029
nach einem noch unerschlossenen Reiche der Bildung, und das giebt pgo_281.030
ihm einen neuen wehmüthigen Reiz. Was in diesen Volksliedern indeß pgo_281.031
echt lyrisch ist: das sind seine verschleierten Uebergänge, seine sinnigen pgo_281.032
Andeutungen, dies träumerische Herübergehn vom Naturbild zum Ereigniß pgo_281.033
des Herzens. Dadurch erhält auch seine Form etwas Knappes, pgo_281.034
Gedrungenes, Sangbares; der wiederkehrende Refrain hält die Einheit

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0303" n="281"/><lb n="pgo_281.001"/>
männlicher und weiblicher Reime einen etwas beweglicheren und minder <lb n="pgo_281.002"/>
strengen Charakter erhalten. Vierzeilige Strophen mit einfach verschlungenen <lb n="pgo_281.003"/>
Reimen entsprechen am meisten der anmuthigen Einfachheit <lb n="pgo_281.004"/>
des Liedes.</p>
              <p><lb n="pgo_281.005"/>
Auch widerspricht es nicht dem sangbaren Charakter des Liedes, daß <lb n="pgo_281.006"/>
die zweite Hälfte der Strophe, besonders der vom Chor zu singende <lb n="pgo_281.007"/>
Refrain in einem andern Versmaaß gedichtet ist, wie wir dies in vielen <lb n="pgo_281.008"/>
Volks- und geselligen Liedern finden. Dagegen ist der Pomp oft wiederholter <lb n="pgo_281.009"/>
und kunstvoll verschlungener Reime mit dem Wesen des Liedes <lb n="pgo_281.010"/>
durchaus unverträglich. Es ist daher unbegreiflich, wie zahlreiche Aesthetiker, <lb n="pgo_281.011"/>
unter ihnen auch Hillebrand in seiner: &#x201E;Literar-Aesthetik&#x201C; das <hi rendition="#g">Sonett</hi> <lb n="pgo_281.012"/>
als eine Unterart des &#x201E;<hi rendition="#g">Liedes</hi>&#x201C; betrachten konnten. Eher dürfte das <lb n="pgo_281.013"/> <hi rendition="#g">lyrische Epigramm,</hi> das <hi rendition="#g">Madrigal,</hi> das in kein solches monotones <lb n="pgo_281.014"/>
Vers- und Reimschema eingezwängt war, hier eine Stätte finden, indem, <lb n="pgo_281.015"/>
wie wir schon gesehen, eine frappante lyrische Pointe, ein schalkhaftes <lb n="pgo_281.016"/>
Austönen im Liede vollkommen berechtigt ist, welches sogar einen durchaus <lb n="pgo_281.017"/>
komischen Jnhalt in sich aufzunehmen vermag. Wir wollen jetzt <lb n="pgo_281.018"/>
einige Unterscheidungen des Liedes und geschichtliche Gestalten desselben <lb n="pgo_281.019"/>
näher in's Auge fassen.</p>
              <div n="5">
                <lb n="pgo_281.020"/>
                <head> <hi rendition="#c">1. Das Volkslied und Kunstlied.</hi> </head>
                <p><lb n="pgo_281.021"/>
Das <hi rendition="#g">Lied</hi> als unmittelbarer Erguß des Herzens setzt keine tiefere <lb n="pgo_281.022"/>
Bildung voraus; im Gegentheil, sein Quell kann am frischesten in einem <lb n="pgo_281.023"/>
unbefangenen, mit der Natur noch träumerisch verwachsenen Gemüthe <lb n="pgo_281.024"/>
sprudeln! Dann erinnert es an den Gesang des Vogels, der auf den <lb n="pgo_281.025"/>
Zweigen singt. Die Natur und die eigene Empfindung, die Welt der <lb n="pgo_281.026"/>
Sage, mit welcher der Sänger groß geworden, sind die Quellen des <lb n="pgo_281.027"/> <hi rendition="#g">Volksliedes,</hi> dessen kunstlose Naivetät, wie aromatischer Waldduft, <lb n="pgo_281.028"/>
das Gemüth gefangen nimmt. Zugleich liegt im Volksliede die Sehnsucht <lb n="pgo_281.029"/>
nach einem noch unerschlossenen Reiche der Bildung, und das giebt <lb n="pgo_281.030"/>
ihm einen neuen wehmüthigen Reiz. Was in diesen Volksliedern indeß <lb n="pgo_281.031"/>
echt <hi rendition="#g">lyrisch</hi> ist: das sind seine verschleierten Uebergänge, seine sinnigen <lb n="pgo_281.032"/>
Andeutungen, dies träumerische Herübergehn vom Naturbild zum Ereigniß <lb n="pgo_281.033"/>
des Herzens. Dadurch erhält auch seine Form etwas Knappes, <lb n="pgo_281.034"/>
Gedrungenes, Sangbares; der wiederkehrende Refrain hält die Einheit
</p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[281/0303] pgo_281.001 männlicher und weiblicher Reime einen etwas beweglicheren und minder pgo_281.002 strengen Charakter erhalten. Vierzeilige Strophen mit einfach verschlungenen pgo_281.003 Reimen entsprechen am meisten der anmuthigen Einfachheit pgo_281.004 des Liedes. pgo_281.005 Auch widerspricht es nicht dem sangbaren Charakter des Liedes, daß pgo_281.006 die zweite Hälfte der Strophe, besonders der vom Chor zu singende pgo_281.007 Refrain in einem andern Versmaaß gedichtet ist, wie wir dies in vielen pgo_281.008 Volks- und geselligen Liedern finden. Dagegen ist der Pomp oft wiederholter pgo_281.009 und kunstvoll verschlungener Reime mit dem Wesen des Liedes pgo_281.010 durchaus unverträglich. Es ist daher unbegreiflich, wie zahlreiche Aesthetiker, pgo_281.011 unter ihnen auch Hillebrand in seiner: „Literar-Aesthetik“ das Sonett pgo_281.012 als eine Unterart des „Liedes“ betrachten konnten. Eher dürfte das pgo_281.013 lyrische Epigramm, das Madrigal, das in kein solches monotones pgo_281.014 Vers- und Reimschema eingezwängt war, hier eine Stätte finden, indem, pgo_281.015 wie wir schon gesehen, eine frappante lyrische Pointe, ein schalkhaftes pgo_281.016 Austönen im Liede vollkommen berechtigt ist, welches sogar einen durchaus pgo_281.017 komischen Jnhalt in sich aufzunehmen vermag. Wir wollen jetzt pgo_281.018 einige Unterscheidungen des Liedes und geschichtliche Gestalten desselben pgo_281.019 näher in's Auge fassen. pgo_281.020 1. Das Volkslied und Kunstlied. pgo_281.021 Das Lied als unmittelbarer Erguß des Herzens setzt keine tiefere pgo_281.022 Bildung voraus; im Gegentheil, sein Quell kann am frischesten in einem pgo_281.023 unbefangenen, mit der Natur noch träumerisch verwachsenen Gemüthe pgo_281.024 sprudeln! Dann erinnert es an den Gesang des Vogels, der auf den pgo_281.025 Zweigen singt. Die Natur und die eigene Empfindung, die Welt der pgo_281.026 Sage, mit welcher der Sänger groß geworden, sind die Quellen des pgo_281.027 Volksliedes, dessen kunstlose Naivetät, wie aromatischer Waldduft, pgo_281.028 das Gemüth gefangen nimmt. Zugleich liegt im Volksliede die Sehnsucht pgo_281.029 nach einem noch unerschlossenen Reiche der Bildung, und das giebt pgo_281.030 ihm einen neuen wehmüthigen Reiz. Was in diesen Volksliedern indeß pgo_281.031 echt lyrisch ist: das sind seine verschleierten Uebergänge, seine sinnigen pgo_281.032 Andeutungen, dies träumerische Herübergehn vom Naturbild zum Ereigniß pgo_281.033 des Herzens. Dadurch erhält auch seine Form etwas Knappes, pgo_281.034 Gedrungenes, Sangbares; der wiederkehrende Refrain hält die Einheit

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/303
Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 281. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/303>, abgerufen am 22.11.2024.