Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

pgo_291.001
Unruhe sie nicht bei einem einzelnen Bilde verweilen, weil ja kein einzelnes pgo_291.002
die Fülle der Begeisterung erschöpfend spiegeln kann. Schon der am pgo_291.003
meisten epische Odendichter, Pindar, flicht eine Reihe plastischer Gemmen pgo_291.004
zum Kranz; aber die geistige Vermittelung ist eine kühne, welche die pgo_291.005
ergänzende Phantasie herausfordert. Das aber ist das Wesen der Gedankenverbindung pgo_291.006
in der Ode: abgerissene, vom Fluthstrom des Geistes pgo_291.007
aneinandergeschwemmte Bilder, kurz angedeutete kühne Uebergänge, Auslassungen pgo_291.008
und Sprünge; aber die scheinbare Unordnung und Willkür pgo_291.009
beherrscht von einer tieferen Einheit des begeisterten Gedankens. Freilich pgo_291.010
dürfen seine Abschweifungen nicht gänzlich zerstreuender Art sein, wie pgo_291.011
z. B. im zehnten pythischen Gesang des Pindar die Schilderung des Landes pgo_291.012
der Hyperboreer. Er mahnt den Sieger, daß er nicht ein ganz unbedingtes pgo_291.013
Glück finden, nicht wie Perseus in das Land der glückseligen pgo_291.014
Hyperboreer den Weg finden werde. So ist der Uebergang zur Schilderung pgo_291.015
dieses Landes wohl vermittelt; aber die Episode drängt sich zu sehr pgo_291.016
in den Vordergrund, und Pindar selbst hält eine Rechtfertigung für pgo_291.017
nöthig, indem er die Weise seines Siegsgesanges mit der Biene vergleicht, pgo_291.018
die ihren Honig aus verschiedenen Blumen sammelt. Wenn pgo_291.019
Horaz die Meerfahrt seines Freundes Virgilius (I, 3.) besingt, so beginnt pgo_291.020
er mit einem herzlichen Wunsche, daß ihm die andere Hälfte seiner Seele pgo_291.021
erhalten bleibe, daß das Schiff den Freund sicher an Attika's Gestade pgo_291.022
aussetze! Der Liederdichter hätte diesen Wunsch mit inniger und sinniger pgo_291.023
Wärme ausgesprochen und die ganze Gluth der Freundschaft in seine pgo_291.024
Verse gehaucht! Der Odendichter aber springt alsbald zu andern kühnern pgo_291.025
Bildern ab! Er sieht das Schiff, das den Freund trägt, in seinem pgo_291.026
Kampfe mit den Fluthen -- und dies einzelne Bild wird ihm zum Bilde pgo_291.027
der ganzen, kühnen und ringenden Menschheit, welche den Gefahren der pgo_291.028
Fluthen und Stürme, den Brandungen Adria's, den schwimmenden pgo_291.029
Ungeheuern der Tiefe trotzt und über die von den Göttern gesetzte Scheidung pgo_291.030
des Oceans auf frevelndem Floß hinausschifft! Er schaut im Geiste pgo_291.031
den ganzen Trotz der Menschen gegen die Götter; den Uebermuth des pgo_291.032
Prometheus, der ihnen das Feuer raubt, des Dädalus, der sich auf pgo_291.033
menschlichen Flügeln in den Aether wagt, des Herkules, der durch den pgo_291.034
Acheron dringt; und aus einem der Freundschaft geweihten Liede wird pgo_291.035
eine der gedankenvollsten und die einzig titanische Ode des Horaz, indem

pgo_291.001
Unruhe sie nicht bei einem einzelnen Bilde verweilen, weil ja kein einzelnes pgo_291.002
die Fülle der Begeisterung erschöpfend spiegeln kann. Schon der am pgo_291.003
meisten epische Odendichter, Pindar, flicht eine Reihe plastischer Gemmen pgo_291.004
zum Kranz; aber die geistige Vermittelung ist eine kühne, welche die pgo_291.005
ergänzende Phantasie herausfordert. Das aber ist das Wesen der Gedankenverbindung pgo_291.006
in der Ode: abgerissene, vom Fluthstrom des Geistes pgo_291.007
aneinandergeschwemmte Bilder, kurz angedeutete kühne Uebergänge, Auslassungen pgo_291.008
und Sprünge; aber die scheinbare Unordnung und Willkür pgo_291.009
beherrscht von einer tieferen Einheit des begeisterten Gedankens. Freilich pgo_291.010
dürfen seine Abschweifungen nicht gänzlich zerstreuender Art sein, wie pgo_291.011
z. B. im zehnten pythischen Gesang des Pindar die Schilderung des Landes pgo_291.012
der Hyperboreer. Er mahnt den Sieger, daß er nicht ein ganz unbedingtes pgo_291.013
Glück finden, nicht wie Perseus in das Land der glückseligen pgo_291.014
Hyperboreer den Weg finden werde. So ist der Uebergang zur Schilderung pgo_291.015
dieses Landes wohl vermittelt; aber die Episode drängt sich zu sehr pgo_291.016
in den Vordergrund, und Pindar selbst hält eine Rechtfertigung für pgo_291.017
nöthig, indem er die Weise seines Siegsgesanges mit der Biene vergleicht, pgo_291.018
die ihren Honig aus verschiedenen Blumen sammelt. Wenn pgo_291.019
Horaz die Meerfahrt seines Freundes Virgilius (I, 3.) besingt, so beginnt pgo_291.020
er mit einem herzlichen Wunsche, daß ihm die andere Hälfte seiner Seele pgo_291.021
erhalten bleibe, daß das Schiff den Freund sicher an Attika's Gestade pgo_291.022
aussetze! Der Liederdichter hätte diesen Wunsch mit inniger und sinniger pgo_291.023
Wärme ausgesprochen und die ganze Gluth der Freundschaft in seine pgo_291.024
Verse gehaucht! Der Odendichter aber springt alsbald zu andern kühnern pgo_291.025
Bildern ab! Er sieht das Schiff, das den Freund trägt, in seinem pgo_291.026
Kampfe mit den Fluthen — und dies einzelne Bild wird ihm zum Bilde pgo_291.027
der ganzen, kühnen und ringenden Menschheit, welche den Gefahren der pgo_291.028
Fluthen und Stürme, den Brandungen Adria's, den schwimmenden pgo_291.029
Ungeheuern der Tiefe trotzt und über die von den Göttern gesetzte Scheidung pgo_291.030
des Oceans auf frevelndem Floß hinausschifft! Er schaut im Geiste pgo_291.031
den ganzen Trotz der Menschen gegen die Götter; den Uebermuth des pgo_291.032
Prometheus, der ihnen das Feuer raubt, des Dädalus, der sich auf pgo_291.033
menschlichen Flügeln in den Aether wagt, des Herkules, der durch den pgo_291.034
Acheron dringt; und aus einem der Freundschaft geweihten Liede wird pgo_291.035
eine der gedankenvollsten und die einzig titanische Ode des Horaz, indem

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0313" n="291"/><lb n="pgo_291.001"/>
Unruhe sie nicht bei einem einzelnen Bilde verweilen, weil ja kein einzelnes <lb n="pgo_291.002"/>
die Fülle der Begeisterung erschöpfend spiegeln kann. Schon der am <lb n="pgo_291.003"/>
meisten epische Odendichter, Pindar, flicht eine Reihe plastischer Gemmen <lb n="pgo_291.004"/>
zum Kranz; aber die geistige Vermittelung ist eine kühne, welche die <lb n="pgo_291.005"/>
ergänzende Phantasie herausfordert. Das aber ist das Wesen der Gedankenverbindung <lb n="pgo_291.006"/>
in der Ode: abgerissene, vom Fluthstrom des Geistes <lb n="pgo_291.007"/>
aneinandergeschwemmte Bilder, kurz angedeutete kühne Uebergänge, Auslassungen <lb n="pgo_291.008"/>
und Sprünge; aber die scheinbare Unordnung und Willkür <lb n="pgo_291.009"/>
beherrscht von einer tieferen Einheit des begeisterten Gedankens. Freilich <lb n="pgo_291.010"/>
dürfen seine Abschweifungen nicht gänzlich zerstreuender Art sein, wie <lb n="pgo_291.011"/>
z. B. im zehnten pythischen Gesang des Pindar die Schilderung des Landes <lb n="pgo_291.012"/>
der Hyperboreer. Er mahnt den Sieger, daß er nicht ein ganz unbedingtes <lb n="pgo_291.013"/>
Glück finden, nicht wie Perseus in das Land der glückseligen <lb n="pgo_291.014"/>
Hyperboreer den Weg finden werde. So ist der Uebergang zur Schilderung <lb n="pgo_291.015"/>
dieses Landes wohl vermittelt; aber die Episode drängt sich zu sehr <lb n="pgo_291.016"/>
in den Vordergrund, und Pindar selbst hält eine Rechtfertigung für <lb n="pgo_291.017"/>
nöthig, indem er die Weise seines Siegsgesanges mit der Biene vergleicht, <lb n="pgo_291.018"/>
die ihren Honig aus verschiedenen Blumen sammelt. Wenn <lb n="pgo_291.019"/>
Horaz die Meerfahrt seines Freundes Virgilius (I, 3.) besingt, so beginnt <lb n="pgo_291.020"/>
er mit einem herzlichen Wunsche, daß ihm die andere Hälfte seiner Seele <lb n="pgo_291.021"/>
erhalten bleibe, daß das Schiff den Freund sicher an Attika's Gestade <lb n="pgo_291.022"/>
aussetze! Der Liederdichter hätte diesen Wunsch mit inniger und sinniger <lb n="pgo_291.023"/>
Wärme ausgesprochen und die ganze Gluth der Freundschaft in seine <lb n="pgo_291.024"/>
Verse gehaucht! Der Odendichter aber springt alsbald zu andern kühnern <lb n="pgo_291.025"/>
Bildern ab! Er sieht das Schiff, das den Freund trägt, in seinem <lb n="pgo_291.026"/>
Kampfe mit den Fluthen &#x2014; und dies einzelne Bild wird ihm zum Bilde <lb n="pgo_291.027"/>
der ganzen, kühnen und ringenden Menschheit, welche den Gefahren der <lb n="pgo_291.028"/>
Fluthen und Stürme, den Brandungen Adria's, den schwimmenden <lb n="pgo_291.029"/>
Ungeheuern der Tiefe trotzt und über die von den Göttern gesetzte Scheidung <lb n="pgo_291.030"/>
des Oceans auf frevelndem Floß hinausschifft! Er schaut im Geiste <lb n="pgo_291.031"/>
den ganzen Trotz der Menschen gegen die Götter; den Uebermuth des <lb n="pgo_291.032"/>
Prometheus, der ihnen das Feuer raubt, des Dädalus, der sich auf <lb n="pgo_291.033"/>
menschlichen Flügeln in den Aether wagt, des Herkules, der durch den <lb n="pgo_291.034"/>
Acheron dringt; und aus einem der Freundschaft geweihten Liede wird <lb n="pgo_291.035"/>
eine der gedankenvollsten und die einzig titanische Ode des Horaz, indem
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[291/0313] pgo_291.001 Unruhe sie nicht bei einem einzelnen Bilde verweilen, weil ja kein einzelnes pgo_291.002 die Fülle der Begeisterung erschöpfend spiegeln kann. Schon der am pgo_291.003 meisten epische Odendichter, Pindar, flicht eine Reihe plastischer Gemmen pgo_291.004 zum Kranz; aber die geistige Vermittelung ist eine kühne, welche die pgo_291.005 ergänzende Phantasie herausfordert. Das aber ist das Wesen der Gedankenverbindung pgo_291.006 in der Ode: abgerissene, vom Fluthstrom des Geistes pgo_291.007 aneinandergeschwemmte Bilder, kurz angedeutete kühne Uebergänge, Auslassungen pgo_291.008 und Sprünge; aber die scheinbare Unordnung und Willkür pgo_291.009 beherrscht von einer tieferen Einheit des begeisterten Gedankens. Freilich pgo_291.010 dürfen seine Abschweifungen nicht gänzlich zerstreuender Art sein, wie pgo_291.011 z. B. im zehnten pythischen Gesang des Pindar die Schilderung des Landes pgo_291.012 der Hyperboreer. Er mahnt den Sieger, daß er nicht ein ganz unbedingtes pgo_291.013 Glück finden, nicht wie Perseus in das Land der glückseligen pgo_291.014 Hyperboreer den Weg finden werde. So ist der Uebergang zur Schilderung pgo_291.015 dieses Landes wohl vermittelt; aber die Episode drängt sich zu sehr pgo_291.016 in den Vordergrund, und Pindar selbst hält eine Rechtfertigung für pgo_291.017 nöthig, indem er die Weise seines Siegsgesanges mit der Biene vergleicht, pgo_291.018 die ihren Honig aus verschiedenen Blumen sammelt. Wenn pgo_291.019 Horaz die Meerfahrt seines Freundes Virgilius (I, 3.) besingt, so beginnt pgo_291.020 er mit einem herzlichen Wunsche, daß ihm die andere Hälfte seiner Seele pgo_291.021 erhalten bleibe, daß das Schiff den Freund sicher an Attika's Gestade pgo_291.022 aussetze! Der Liederdichter hätte diesen Wunsch mit inniger und sinniger pgo_291.023 Wärme ausgesprochen und die ganze Gluth der Freundschaft in seine pgo_291.024 Verse gehaucht! Der Odendichter aber springt alsbald zu andern kühnern pgo_291.025 Bildern ab! Er sieht das Schiff, das den Freund trägt, in seinem pgo_291.026 Kampfe mit den Fluthen — und dies einzelne Bild wird ihm zum Bilde pgo_291.027 der ganzen, kühnen und ringenden Menschheit, welche den Gefahren der pgo_291.028 Fluthen und Stürme, den Brandungen Adria's, den schwimmenden pgo_291.029 Ungeheuern der Tiefe trotzt und über die von den Göttern gesetzte Scheidung pgo_291.030 des Oceans auf frevelndem Floß hinausschifft! Er schaut im Geiste pgo_291.031 den ganzen Trotz der Menschen gegen die Götter; den Uebermuth des pgo_291.032 Prometheus, der ihnen das Feuer raubt, des Dädalus, der sich auf pgo_291.033 menschlichen Flügeln in den Aether wagt, des Herkules, der durch den pgo_291.034 Acheron dringt; und aus einem der Freundschaft geweihten Liede wird pgo_291.035 eine der gedankenvollsten und die einzig titanische Ode des Horaz, indem

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/313
Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 291. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/313>, abgerufen am 24.11.2024.