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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Hintergrund; das Epos ist wesentlich Kulturgemälde. Doch auch die pgo_330.002
Naturschilderung ist, nach den früher aufgestellten Grundsätzen, berechtigt, pgo_330.003
die elementaren Mächte, Stürme, Seuchen u. s. f. spielen eine große pgo_330.004
Rolle im Epos. Homer ist ein Meister in der Schilderung des Seesturmes, pgo_330.005
er hat dem bewegten Leben des Meeres alle Geheimnisse, alle pgo_330.006
Farben abgelauscht. Schwächer ist diese Seemalerei in dem nordischen pgo_330.007
Seeepos: Gudrun, während sie in der Luisiade des Camoens ihren pgo_330.008
künstlerischen Höhepunkt erreicht. Doch es finden sich auch bei Homer pgo_330.009
Stellen, welche an die Landschaftsmalerei der modernen Romane pgo_330.010
erinnern. So z. B. beschreibt er die Umhegung der Grotte der Kalypso pgo_330.011
mit Erlen, Pappeln und Cypressen, den in üppigem Wuchs rankenden pgo_330.012
Weinstock, die vier Quellen, die ihr blinkendes Wasser durch schwellende pgo_330.013
Wiesen, reich an Violen und Eppich, in schlängelndem Lauf ergießen. pgo_330.014
Doch um das Landschaftsbild zittert der Hauch einer epischen Stimmung, pgo_330.015
wie wir es nennen möchten! Der Epiker malt, ohne lyrische pgo_330.016
Ausführung, ein Bild, dessen Bedeutung wir erst erfassen, wenn wir zu pgo_330.017
seiner Ergänzung den auf Felsen und sandigen Dünen sitzenden Odysseus pgo_330.018
in's Auge fassen,

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Wo er mit Thränen und Seufzern und innigem Gram sich zerquälend pgo_330.020
Auf das verödete Meer hinschauete, Thränen vergießend.

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Die Grotte der Kalypso fesselt den Dulder nicht; er flieht aus ihrer pgo_330.022
reizenden Umgebung an das öde Gestade des Meeres, um sich dort ganz pgo_330.023
seiner Sehnsucht nach der Heimath hinzugeben. Der Lyriker hätte diesen pgo_330.024
Gegensatz mit reichen Farben ausgemalt; der Epiker stellt beide Bilder pgo_330.025
selbstständig hin und erhellt das eine durch das andere. Diese Grotte pgo_330.026
der Kalypso wurde später mehrfach von den Epikern nachgeahmt, am pgo_330.027
ausführlichsten von Tasso im Zaubergarten der Armida. Einen solchen pgo_330.028
Bezug auf die Seele des Menschen muß aber das Landschaftsbild in der pgo_330.029
epischen Dichtung immer haben. Wie charakteristisch sind Ossian's thauschwere, pgo_330.030
grasige Hügel, blaue Ströme und Gewässer, dunkle Schatten pgo_330.031
des Herbstes, obwohl bei ihm oft schon die epische Stimmung in's Lyrische pgo_330.032
zerfließt. Auch in Jean Paul's Romanen malt sich die Landschaft nur pgo_330.033
in der Seele des Helden, wie in einer camera obscura mit eigener pgo_330.034
magischer Beleuchtung. Breitere Schildereien ohne solche tiefere Beziehung, pgo_330.035
zu denen die Engländer neigen, seit Thomson's Zeit bis in ihre

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 330. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/352>, abgerufen am 22.11.2024.