pgo_342.001 Und hier bricht er ab und erzählt in einer langen Reihe von Gesängen pgo_342.002 die Schicksale des Odysseus! Wie wird Telemachos ankommen? pgo_342.003 Wird er dem Hinterhalt der Freier glücklich entgehen? Wird die sorgenvolle pgo_342.004 Mutter den Geretteten wieder in die Arme schließen? Mit diesen pgo_342.005 ungelösten Fragen entläßt uns der Dichter, hemmt die Erzählung mitten pgo_342.006 in ihrem Verlauf und führt die Entwickelung der Hauptbegebenheit pgo_342.007 weiter fort. Durch diese Hemmung fesselt er zugleich! Während wir pgo_342.008 weiter hören oder lesen, bleibt im dunkeln Grunde unseres Gemüthes die pgo_342.009 Erwartung zurück, den weiteren Fortgang jener abgebrochenen Begebenheit pgo_342.010 zu erfahren. Dieser epische Effekt des Hinausschiebens ist dem pgo_342.011 Dramatischen entgegengesetzt. Der Epiker schließt einen Abschnitt seiner pgo_342.012 Dichtung in hemmender und abbrechender Weise; der Dramatiker im pgo_342.013 Gegentheil schließt den Akt mit einem entscheidenden, zu voller Geltung pgo_342.014 gebrachten Moment der Handlung. Die Technik des neuen Romans, pgo_342.015 für welche das geschickte Abbrechen und Aufnehmen der Fäden ein wesentliches pgo_342.016 Mittel ist, das Jnteresse immer wach zu halten, kann sich daher pgo_342.017 auf das Muster der ältesten Volksepopöen berufen.
pgo_342.018 Was nun die Darstellungsweise des Epos betrifft, so läßt sie sich am pgo_342.019 schlagendsten als eine "plastische" bezeichnen. Hegel nannte die Bilder pgo_342.020 des Epikers "Skulpturbilder der Vorstellung." Fest auf sich selbst ruhend, pgo_342.021 wie aus Erz und Marmor gegossen, klar, bestimmt, von zusammenhängenden pgo_342.022 Linien und Formen, bis in's Einzelne ausgeprägt, sollen die pgo_342.023 epischen Gestalten vor unsern Augen stehn; Alles, was der Epiker schafft, pgo_342.024 soll ein Reliefbild sein. Das Epos verlangt die höchste Objektivität des pgo_342.025 Styles. Auch die innere Welt der Seele muß uns, wie die äußere, in pgo_342.026 klarem Zusammenhang vorgeführt werden. Jn unserer Zeit der größern pgo_342.027 Jnnerlichkeit läßt sich die Empfindung nicht immer durch die Anschauung pgo_342.028 darstellen; aber die Welt der Empfindungen, der Vorstellungen, die vor pgo_342.029 der Seele vorüberziehn, muß uns wie ein innerlicher Kosmos in klarer pgo_342.030 Aufeinanderfolge dargelegt werden! Und niemals darf der Epiker seiner pgo_342.031 eigenen Empfindung einen beredtsamen Ausdruck vergönnen! Sie darf pgo_342.032 sich nur in der Wärme und Jnnigkeit offenbaren, mit der sie die Empfindung pgo_342.033 seiner Helden durchdringt! Tiefe und zarte psychologische Entwickelungen, pgo_342.034 wie sie sich in den Romanen einer George Sand, eines pgo_342.035 Balzac u. A. finden, sind daher echt episch, sobald sie nur am Faden
pgo_342.001 Und hier bricht er ab und erzählt in einer langen Reihe von Gesängen pgo_342.002 die Schicksale des Odysseus! Wie wird Telemachos ankommen? pgo_342.003 Wird er dem Hinterhalt der Freier glücklich entgehen? Wird die sorgenvolle pgo_342.004 Mutter den Geretteten wieder in die Arme schließen? Mit diesen pgo_342.005 ungelösten Fragen entläßt uns der Dichter, hemmt die Erzählung mitten pgo_342.006 in ihrem Verlauf und führt die Entwickelung der Hauptbegebenheit pgo_342.007 weiter fort. Durch diese Hemmung fesselt er zugleich! Während wir pgo_342.008 weiter hören oder lesen, bleibt im dunkeln Grunde unseres Gemüthes die pgo_342.009 Erwartung zurück, den weiteren Fortgang jener abgebrochenen Begebenheit pgo_342.010 zu erfahren. Dieser epische Effekt des Hinausschiebens ist dem pgo_342.011 Dramatischen entgegengesetzt. Der Epiker schließt einen Abschnitt seiner pgo_342.012 Dichtung in hemmender und abbrechender Weise; der Dramatiker im pgo_342.013 Gegentheil schließt den Akt mit einem entscheidenden, zu voller Geltung pgo_342.014 gebrachten Moment der Handlung. Die Technik des neuen Romans, pgo_342.015 für welche das geschickte Abbrechen und Aufnehmen der Fäden ein wesentliches pgo_342.016 Mittel ist, das Jnteresse immer wach zu halten, kann sich daher pgo_342.017 auf das Muster der ältesten Volksepopöen berufen.
pgo_342.018 Was nun die Darstellungsweise des Epos betrifft, so läßt sie sich am pgo_342.019 schlagendsten als eine „plastische“ bezeichnen. Hegel nannte die Bilder pgo_342.020 des Epikers „Skulpturbilder der Vorstellung.“ Fest auf sich selbst ruhend, pgo_342.021 wie aus Erz und Marmor gegossen, klar, bestimmt, von zusammenhängenden pgo_342.022 Linien und Formen, bis in's Einzelne ausgeprägt, sollen die pgo_342.023 epischen Gestalten vor unsern Augen stehn; Alles, was der Epiker schafft, pgo_342.024 soll ein Reliefbild sein. Das Epos verlangt die höchste Objektivität des pgo_342.025 Styles. Auch die innere Welt der Seele muß uns, wie die äußere, in pgo_342.026 klarem Zusammenhang vorgeführt werden. Jn unserer Zeit der größern pgo_342.027 Jnnerlichkeit läßt sich die Empfindung nicht immer durch die Anschauung pgo_342.028 darstellen; aber die Welt der Empfindungen, der Vorstellungen, die vor pgo_342.029 der Seele vorüberziehn, muß uns wie ein innerlicher Kosmos in klarer pgo_342.030 Aufeinanderfolge dargelegt werden! Und niemals darf der Epiker seiner pgo_342.031 eigenen Empfindung einen beredtsamen Ausdruck vergönnen! Sie darf pgo_342.032 sich nur in der Wärme und Jnnigkeit offenbaren, mit der sie die Empfindung pgo_342.033 seiner Helden durchdringt! Tiefe und zarte psychologische Entwickelungen, pgo_342.034 wie sie sich in den Romanen einer George Sand, eines pgo_342.035 Balzac u. A. finden, sind daher echt episch, sobald sie nur am Faden
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Und hier bricht er ab und erzählt in einer langen Reihe von Gesängen pgo_342.002
die Schicksale des Odysseus! Wie wird Telemachos ankommen? pgo_342.003
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 342. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/364>, abgerufen am 22.11.2024.
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