Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.pgo_347.001 pgo_347.005 pgo_347.018 *) pgo_347.034
Wesen und Formen der Dichtkunst S. 305 u. flgde. pgo_347.001 pgo_347.005 pgo_347.018 *) pgo_347.034
Wesen und Formen der Dichtkunst S. 305 u. flgde. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0369" n="347"/><lb n="pgo_347.001"/> Jn den „Nibelungen“ wie im „Schahname“ sind es <lb n="pgo_347.002"/> trotzige, auf sich selbst stehende Heroen, dort ein Heidenthum ohne Götter, <lb n="pgo_347.003"/> hier ein erhabener Fatalismus! Jn den Gesängen Ossian's vermitteln <lb n="pgo_347.004"/> die auf Wolken schwebenden Heldenschatten den Himmel und die Erde!</p> <p><lb n="pgo_347.005"/> Zu den Bedingungen des heroischen Epos, welche allen diesen großartigen <lb n="pgo_347.006"/> Gedichten gemeinsam sind, gehört die Selbstständigkeit und <lb n="pgo_347.007"/> Unabhängigkeit der kämpfenden Helden, die dem Oberfeldherrn nur als <lb n="pgo_347.008"/> freie Bundesgenossen folgen. Der zürnende Achilleus sondert sich mit <lb n="pgo_347.009"/> seinen Myrmidonen vom Kampfe ab; ebenso <hi rendition="#g">Karna</hi> in dem Mahabharata, <lb n="pgo_347.010"/> der sich mit Bhishma erzürnt hat. Jn der „Gudrun“ sendet Frau <lb n="pgo_347.011"/> <hi rendition="#g">Hilde</hi> Boten zu ihren Freunden, zu <hi rendition="#g">Herwig,</hi> dem Dänen Horand, <lb n="pgo_347.012"/> zu Morung, Frute, Waten von Sturmland, um sie zum Kriegszug nach <lb n="pgo_347.013"/> der Normandie aufzufordern. Gleichberechtigte freie Helden ziehn in den <lb n="pgo_347.014"/> Kampf! Nur in den „Nibelungen,“ demjenigen Volksepos, das in seiner <lb n="pgo_347.015"/> Motivirung von dramatischer Jnnerlichkeit ist, wird das Vasallenthum <lb n="pgo_347.016"/> des Dienstmanns <hi rendition="#g">Hagen,</hi> der Siegfried ermordet, als ein entscheidendes <lb n="pgo_347.017"/> Motiv betont.</p> <p><lb n="pgo_347.018"/> Eine vergleichende Anatomie des Volksepos, zu der <hi rendition="#g">Carrière</hi><note xml:id="PGO_347_1" place="foot" n="*)"><lb n="pgo_347.034"/> Wesen und Formen der Dichtkunst S. 305 u. flgde.</note> <lb n="pgo_347.019"/> einige geistvolle Umrisse gegeben, läßt uns zwischen dem indischen, griechischen, <lb n="pgo_347.020"/> persischen und deutschen bedeutsame Aehnlichkeiten entdecken. Bei <lb n="pgo_347.021"/> allen vier Nationen ist ein feuriger Jugendheld, Karna-Achilleus-Sijawusch-Siegfried, <lb n="pgo_347.022"/> die am meisten fesselnde Erscheinung. Korna, der <lb n="pgo_347.023"/> Sohn des Sonnengottes, hat von seinem Vater einen undurchdringlichen <lb n="pgo_347.024"/> Panzer erhalten; Achilleus ist in den Styx getaucht und nur an der Ferse <lb n="pgo_347.025"/> verwundbar; Siegfried ist unverwundbar durch das Blut des erschlagenen <lb n="pgo_347.026"/> Drachen Fafnir und nur an einer Stelle zwischen den Schultern verletzlich. <lb n="pgo_347.027"/> Alle diese Lichthelden fallen in der Pracht und Blüthe der <lb n="pgo_347.028"/> Jugend; sie wahrten nicht ihre Reinheit; sie traten in nähere Berührung <lb n="pgo_347.029"/> mit dem feindlichen Element: Achilleus durch seine Ehe mit der Polyxena, <lb n="pgo_347.030"/> Sijawusch durch seine Vermählung mit Ferengis, der Tochter Afrasiabs, <lb n="pgo_347.031"/> Siegfried durch seine Heirath mit Chriemhild, durch seine Verbindung <lb n="pgo_347.032"/> mit den Nibelungen, den Kindern des Abgrundes! Aber im Untergange <lb n="pgo_347.033"/> dieser Sonnensöhne liegt zugleich eine ahnungsvolle Wehmuth ausgedrückt, </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [347/0369]
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Jn den „Nibelungen“ wie im „Schahname“ sind es pgo_347.002
trotzige, auf sich selbst stehende Heroen, dort ein Heidenthum ohne Götter, pgo_347.003
hier ein erhabener Fatalismus! Jn den Gesängen Ossian's vermitteln pgo_347.004
die auf Wolken schwebenden Heldenschatten den Himmel und die Erde!
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Zu den Bedingungen des heroischen Epos, welche allen diesen großartigen pgo_347.006
Gedichten gemeinsam sind, gehört die Selbstständigkeit und pgo_347.007
Unabhängigkeit der kämpfenden Helden, die dem Oberfeldherrn nur als pgo_347.008
freie Bundesgenossen folgen. Der zürnende Achilleus sondert sich mit pgo_347.009
seinen Myrmidonen vom Kampfe ab; ebenso Karna in dem Mahabharata, pgo_347.010
der sich mit Bhishma erzürnt hat. Jn der „Gudrun“ sendet Frau pgo_347.011
Hilde Boten zu ihren Freunden, zu Herwig, dem Dänen Horand, pgo_347.012
zu Morung, Frute, Waten von Sturmland, um sie zum Kriegszug nach pgo_347.013
der Normandie aufzufordern. Gleichberechtigte freie Helden ziehn in den pgo_347.014
Kampf! Nur in den „Nibelungen,“ demjenigen Volksepos, das in seiner pgo_347.015
Motivirung von dramatischer Jnnerlichkeit ist, wird das Vasallenthum pgo_347.016
des Dienstmanns Hagen, der Siegfried ermordet, als ein entscheidendes pgo_347.017
Motiv betont.
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Eine vergleichende Anatomie des Volksepos, zu der Carrière *) pgo_347.019
einige geistvolle Umrisse gegeben, läßt uns zwischen dem indischen, griechischen, pgo_347.020
persischen und deutschen bedeutsame Aehnlichkeiten entdecken. Bei pgo_347.021
allen vier Nationen ist ein feuriger Jugendheld, Karna-Achilleus-Sijawusch-Siegfried, pgo_347.022
die am meisten fesselnde Erscheinung. Korna, der pgo_347.023
Sohn des Sonnengottes, hat von seinem Vater einen undurchdringlichen pgo_347.024
Panzer erhalten; Achilleus ist in den Styx getaucht und nur an der Ferse pgo_347.025
verwundbar; Siegfried ist unverwundbar durch das Blut des erschlagenen pgo_347.026
Drachen Fafnir und nur an einer Stelle zwischen den Schultern verletzlich. pgo_347.027
Alle diese Lichthelden fallen in der Pracht und Blüthe der pgo_347.028
Jugend; sie wahrten nicht ihre Reinheit; sie traten in nähere Berührung pgo_347.029
mit dem feindlichen Element: Achilleus durch seine Ehe mit der Polyxena, pgo_347.030
Sijawusch durch seine Vermählung mit Ferengis, der Tochter Afrasiabs, pgo_347.031
Siegfried durch seine Heirath mit Chriemhild, durch seine Verbindung pgo_347.032
mit den Nibelungen, den Kindern des Abgrundes! Aber im Untergange pgo_347.033
dieser Sonnensöhne liegt zugleich eine ahnungsvolle Wehmuth ausgedrückt,
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Wesen und Formen der Dichtkunst S. 305 u. flgde.
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