Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

pgo_355.001
Die Kulturwelt Ossian's ist bei Weitem einfacher, als die Homer's, pgo_355.002
und beschränkt sich auf einige dürftige Züge. Der König schlägt den pgo_355.003
Kampfschild, wenn es zur Schlacht geht; der Barde besingt bei'm Mahl, pgo_355.004
wo die Muschel im Kreis geht, die Helden der Vorzeit oder die Geschicke pgo_355.005
der Liebe; die dem aufgehenden Mond verglichenen Schilde, die Schwerter, pgo_355.006
Speere und Streitwagen erglänzen in flüchtigem Reflex dämmernder pgo_355.007
Beleuchtung! Dagegen ist die landschaftliche Natur nicht eine pgo_355.008
todte Umgebung der Helden; nicht nur ihre Thaten werden den rasenden pgo_355.009
Stürmen und rauschenden Strömen verglichen, nicht nur sie selbst den pgo_355.010
verschiedenen Sternen des Himmels -- nein, diese hervorbrechenden pgo_355.011
Waldströme, diese hochaufspritzenden Fluthen des Gestades, diese Winde, pgo_355.012
die über die moosbedeckte Heide wehn und den Bart der Distel zerstreuen, pgo_355.013
diese Lüftchen im Schilfe des flüsternden Stromes sind ja nur wie pgo_355.014
Träume, die bald kühn und wild, bald bang und wehmüthig durch die pgo_355.015
Seele der Helden ziehn, diese elegische Natur ist der Spiegel ihres pgo_355.016
Jnnern, die Schatten von außen und innen verschmelzen sich zu jener pgo_355.017
lyrischen Dämmerung, welche für Ossian die epische Plastik Homer's zu pgo_355.018
einer Unmöglichkeit macht. Von den andern Volksepen, von denen wir pgo_355.019
noch das Czechy'sche Epos von Zaboj und Slawoj, die serbischen epischen pgo_355.020
Volksgesänge von König Lasar und Marko anführen, verdient pgo_355.021
das finnische Zauberepos Kalewala besonders erwähnt zu werden, weil pgo_355.022
es den eigenthümlichen Charakter dieser Stämme, ihre Sitten, ihre pgo_355.023
landschaftliche Umgebung mit großer Wahrheit und Anschaulichkeit schildert. pgo_355.024
Die finnischen Götter treten darin Alle auf; die Helden aber sind pgo_355.025
große Zauberer, und der Wettkampf der Zauberei, zugleich mit einer pgo_355.026
Hochzeitfahrt um die schöne Tochter Lonhi's, der Wirthin des Nordlandes, pgo_355.027
bildet den Hauptinhalt des Epos. Es ist interessant, hier Anklängen an pgo_355.028
die griechische Sage zu begegnen. So ist Wainämönen der finnische pgo_355.029
Orpheus, der größte Sänger, der Erfinder der Leier; alle Wesen, auch pgo_355.030
die Thiere, lauschen seinen Tönen. Dagegen ist Jlmarinen der pgo_355.031
finnische Pygmalion, ein wundersamer Schmied, der sich selbst von Gold pgo_355.032
eine Schöne bildete, die er wieder verließ, als er neben ihr zu ruhn versucht pgo_355.033
hatte, weil sie bei aller Vollendung der Form so wenig in seinen pgo_355.034
Armen erwarmen wollte, wie das elfenbeinerne Bild des griechischen

pgo_355.001
Die Kulturwelt Ossian's ist bei Weitem einfacher, als die Homer's, pgo_355.002
und beschränkt sich auf einige dürftige Züge. Der König schlägt den pgo_355.003
Kampfschild, wenn es zur Schlacht geht; der Barde besingt bei'm Mahl, pgo_355.004
wo die Muschel im Kreis geht, die Helden der Vorzeit oder die Geschicke pgo_355.005
der Liebe; die dem aufgehenden Mond verglichenen Schilde, die Schwerter, pgo_355.006
Speere und Streitwagen erglänzen in flüchtigem Reflex dämmernder pgo_355.007
Beleuchtung! Dagegen ist die landschaftliche Natur nicht eine pgo_355.008
todte Umgebung der Helden; nicht nur ihre Thaten werden den rasenden pgo_355.009
Stürmen und rauschenden Strömen verglichen, nicht nur sie selbst den pgo_355.010
verschiedenen Sternen des Himmels — nein, diese hervorbrechenden pgo_355.011
Waldströme, diese hochaufspritzenden Fluthen des Gestades, diese Winde, pgo_355.012
die über die moosbedeckte Heide wehn und den Bart der Distel zerstreuen, pgo_355.013
diese Lüftchen im Schilfe des flüsternden Stromes sind ja nur wie pgo_355.014
Träume, die bald kühn und wild, bald bang und wehmüthig durch die pgo_355.015
Seele der Helden ziehn, diese elegische Natur ist der Spiegel ihres pgo_355.016
Jnnern, die Schatten von außen und innen verschmelzen sich zu jener pgo_355.017
lyrischen Dämmerung, welche für Ossian die epische Plastik Homer's zu pgo_355.018
einer Unmöglichkeit macht. Von den andern Volksepen, von denen wir pgo_355.019
noch das Czechy'sche Epos von Zaboj und Slawoj, die serbischen epischen pgo_355.020
Volksgesänge von König Lasar und Marko anführen, verdient pgo_355.021
das finnische Zauberepos Kalewala besonders erwähnt zu werden, weil pgo_355.022
es den eigenthümlichen Charakter dieser Stämme, ihre Sitten, ihre pgo_355.023
landschaftliche Umgebung mit großer Wahrheit und Anschaulichkeit schildert. pgo_355.024
Die finnischen Götter treten darin Alle auf; die Helden aber sind pgo_355.025
große Zauberer, und der Wettkampf der Zauberei, zugleich mit einer pgo_355.026
Hochzeitfahrt um die schöne Tochter Lonhi's, der Wirthin des Nordlandes, pgo_355.027
bildet den Hauptinhalt des Epos. Es ist interessant, hier Anklängen an pgo_355.028
die griechische Sage zu begegnen. So ist Wainämönen der finnische pgo_355.029
Orpheus, der größte Sänger, der Erfinder der Leier; alle Wesen, auch pgo_355.030
die Thiere, lauschen seinen Tönen. Dagegen ist Jlmarinen der pgo_355.031
finnische Pygmalion, ein wundersamer Schmied, der sich selbst von Gold pgo_355.032
eine Schöne bildete, die er wieder verließ, als er neben ihr zu ruhn versucht pgo_355.033
hatte, weil sie bei aller Vollendung der Form so wenig in seinen pgo_355.034
Armen erwarmen wollte, wie das elfenbeinerne Bild des griechischen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <pb facs="#f0377" n="355"/>
              <p><lb n="pgo_355.001"/>
Die Kulturwelt Ossian's ist bei Weitem einfacher, als die Homer's, <lb n="pgo_355.002"/>
und beschränkt sich auf einige dürftige Züge. Der König schlägt den <lb n="pgo_355.003"/>
Kampfschild, wenn es zur Schlacht geht; der Barde besingt bei'm Mahl, <lb n="pgo_355.004"/>
wo die Muschel im Kreis geht, die Helden der Vorzeit oder die Geschicke <lb n="pgo_355.005"/>
der Liebe; die dem aufgehenden Mond verglichenen Schilde, die Schwerter, <lb n="pgo_355.006"/>
Speere und Streitwagen erglänzen in flüchtigem Reflex dämmernder <lb n="pgo_355.007"/>
Beleuchtung! Dagegen ist die <hi rendition="#g">landschaftliche Natur</hi> nicht eine <lb n="pgo_355.008"/>
todte Umgebung der Helden; nicht nur ihre Thaten werden den rasenden <lb n="pgo_355.009"/>
Stürmen und rauschenden Strömen verglichen, nicht nur sie selbst den <lb n="pgo_355.010"/>
verschiedenen Sternen des Himmels &#x2014; nein, diese hervorbrechenden <lb n="pgo_355.011"/>
Waldströme, diese hochaufspritzenden Fluthen des Gestades, diese Winde, <lb n="pgo_355.012"/>
die über die moosbedeckte Heide wehn und den Bart der Distel zerstreuen, <lb n="pgo_355.013"/>
diese Lüftchen im Schilfe des flüsternden Stromes sind ja nur wie <lb n="pgo_355.014"/>
Träume, die bald kühn und wild, bald bang und wehmüthig durch die <lb n="pgo_355.015"/>
Seele der Helden ziehn, diese elegische Natur ist der Spiegel ihres <lb n="pgo_355.016"/>
Jnnern, die Schatten von außen und innen verschmelzen sich zu jener <lb n="pgo_355.017"/>
lyrischen Dämmerung, welche für <hi rendition="#g">Ossian</hi> die epische Plastik Homer's zu <lb n="pgo_355.018"/>
einer Unmöglichkeit macht. Von den andern Volksepen, von denen wir <lb n="pgo_355.019"/>
noch das Czechy'sche Epos von <hi rendition="#g">Zaboj</hi> und <hi rendition="#g">Slawoj,</hi> die serbischen epischen <lb n="pgo_355.020"/>
Volksgesänge von König <hi rendition="#g">Lasar</hi> und <hi rendition="#g">Marko</hi> anführen, verdient <lb n="pgo_355.021"/>
das finnische Zauberepos <hi rendition="#g">Kalewala</hi> besonders erwähnt zu werden, weil <lb n="pgo_355.022"/>
es den eigenthümlichen Charakter dieser Stämme, ihre Sitten, ihre <lb n="pgo_355.023"/>
landschaftliche Umgebung mit großer Wahrheit und Anschaulichkeit schildert. <lb n="pgo_355.024"/>
Die finnischen Götter treten darin Alle auf; die Helden aber sind <lb n="pgo_355.025"/>
große Zauberer, und der Wettkampf der Zauberei, zugleich mit einer <lb n="pgo_355.026"/>
Hochzeitfahrt um die schöne Tochter Lonhi's, der Wirthin des Nordlandes, <lb n="pgo_355.027"/>
bildet den Hauptinhalt des Epos. Es ist interessant, hier Anklängen an <lb n="pgo_355.028"/>
die griechische Sage zu begegnen. So ist Wainämönen der finnische <lb n="pgo_355.029"/> <hi rendition="#g">Orpheus,</hi> der größte Sänger, der Erfinder der Leier; alle Wesen, auch <lb n="pgo_355.030"/>
die Thiere, lauschen seinen Tönen. Dagegen ist <hi rendition="#g">Jlmarinen</hi> der <lb n="pgo_355.031"/>
finnische Pygmalion, ein wundersamer Schmied, der sich selbst von Gold <lb n="pgo_355.032"/>
eine Schöne bildete, die er wieder verließ, als er neben ihr zu ruhn versucht <lb n="pgo_355.033"/>
hatte, weil sie bei aller Vollendung der Form so wenig in seinen <lb n="pgo_355.034"/>
Armen erwarmen wollte, wie das elfenbeinerne Bild des griechischen
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[355/0377] pgo_355.001 Die Kulturwelt Ossian's ist bei Weitem einfacher, als die Homer's, pgo_355.002 und beschränkt sich auf einige dürftige Züge. Der König schlägt den pgo_355.003 Kampfschild, wenn es zur Schlacht geht; der Barde besingt bei'm Mahl, pgo_355.004 wo die Muschel im Kreis geht, die Helden der Vorzeit oder die Geschicke pgo_355.005 der Liebe; die dem aufgehenden Mond verglichenen Schilde, die Schwerter, pgo_355.006 Speere und Streitwagen erglänzen in flüchtigem Reflex dämmernder pgo_355.007 Beleuchtung! Dagegen ist die landschaftliche Natur nicht eine pgo_355.008 todte Umgebung der Helden; nicht nur ihre Thaten werden den rasenden pgo_355.009 Stürmen und rauschenden Strömen verglichen, nicht nur sie selbst den pgo_355.010 verschiedenen Sternen des Himmels — nein, diese hervorbrechenden pgo_355.011 Waldströme, diese hochaufspritzenden Fluthen des Gestades, diese Winde, pgo_355.012 die über die moosbedeckte Heide wehn und den Bart der Distel zerstreuen, pgo_355.013 diese Lüftchen im Schilfe des flüsternden Stromes sind ja nur wie pgo_355.014 Träume, die bald kühn und wild, bald bang und wehmüthig durch die pgo_355.015 Seele der Helden ziehn, diese elegische Natur ist der Spiegel ihres pgo_355.016 Jnnern, die Schatten von außen und innen verschmelzen sich zu jener pgo_355.017 lyrischen Dämmerung, welche für Ossian die epische Plastik Homer's zu pgo_355.018 einer Unmöglichkeit macht. Von den andern Volksepen, von denen wir pgo_355.019 noch das Czechy'sche Epos von Zaboj und Slawoj, die serbischen epischen pgo_355.020 Volksgesänge von König Lasar und Marko anführen, verdient pgo_355.021 das finnische Zauberepos Kalewala besonders erwähnt zu werden, weil pgo_355.022 es den eigenthümlichen Charakter dieser Stämme, ihre Sitten, ihre pgo_355.023 landschaftliche Umgebung mit großer Wahrheit und Anschaulichkeit schildert. pgo_355.024 Die finnischen Götter treten darin Alle auf; die Helden aber sind pgo_355.025 große Zauberer, und der Wettkampf der Zauberei, zugleich mit einer pgo_355.026 Hochzeitfahrt um die schöne Tochter Lonhi's, der Wirthin des Nordlandes, pgo_355.027 bildet den Hauptinhalt des Epos. Es ist interessant, hier Anklängen an pgo_355.028 die griechische Sage zu begegnen. So ist Wainämönen der finnische pgo_355.029 Orpheus, der größte Sänger, der Erfinder der Leier; alle Wesen, auch pgo_355.030 die Thiere, lauschen seinen Tönen. Dagegen ist Jlmarinen der pgo_355.031 finnische Pygmalion, ein wundersamer Schmied, der sich selbst von Gold pgo_355.032 eine Schöne bildete, die er wieder verließ, als er neben ihr zu ruhn versucht pgo_355.033 hatte, weil sie bei aller Vollendung der Form so wenig in seinen pgo_355.034 Armen erwarmen wollte, wie das elfenbeinerne Bild des griechischen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/377
Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 355. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/377>, abgerufen am 22.11.2024.