pgo_385.001 für den Roman, der ja nur ein Segment aus dem breiten Kreise des pgo_385.002 socialen Lebens herausschneidet und nicht, wie das Drama, eine scharfe pgo_385.003 Kollision in entscheidender Weise zum Ziele führt.
pgo_385.004 Dies Verlaufen in die Prosa des Lebens läßt die Grenzen des pgo_385.005 Romans nicht so scharf hervortreten, daß er als ideales Kunstwerk auf sich pgo_385.006 selbst ruhen könnte. Sein Zusammenhang mit äußerlichen Jnteressen, die pgo_385.007 für eine poetische Verklärung nicht durchsichtig genug sind, tritt nun auch pgo_385.008 in seinem Verlauf hervor; seine Form hat nicht genügende künstlerische pgo_385.009 Begrenzung, um das Hereinbrechen einer überfluthenden Prosa zu verhindern. pgo_385.010 Besonders nach zwei Seiten hin wird die reine Linie der pgo_385.011 Schönheit leicht überschritten: das unästhetisch sinnliche, materiell pgo_385.012 prickelnde, und das tendenziös didaktische Element trüben die künstlerische pgo_385.013 Reinheit des Romans und machen seine bequeme und geduldige Form pgo_385.014 zu einem Gefäß für die verschiedenartigsten Zwecke, welche außerhalb der pgo_385.015 selbstgenugsamen Harmonie des Schönen liegen. Die Effekthascherei pgo_385.016 durch grelle Situationen und eine gewaltthätige Spannung, wie sie in pgo_385.017 den alten Ritter- und Räuberromanen und in vielen neufranzösischen pgo_385.018 Socialromanen herrscht, zerstört die reine Wirkung des Schönen, indem pgo_385.019 sie mehr die Nerven, als den Geist in Erregung zu bringen sucht. Hierher pgo_385.020 gehört auch das erotische Element, das schon den Hellenischen pgo_385.021 Anfängen des Romans in starker Dosis beigemischt war. Der Roman pgo_385.022 gewährt bereitwillig den Raum zu einer behaglichen und breiten Ausmalung pgo_385.023 des sinnlich Ueppigen, der erotischen Situation. Seit dem pgo_385.024 Priapeischen Roman des Petronius bis zum Ritter Faublas von Louvet, pgo_385.025 bis zu Schlegel's "Lucinde," den sinnlichen diableries von Paul de pgo_385.026 Kock, der schönheitstrunkenen Orgiastik von Heinse, den harmlosen pgo_385.027 Nuditäten in Gutzkow's "Wally" und den Pariser Salons von Heine pgo_385.028 ist der sinnliche Reiz und die sinnliche Spannung ein wesentliches Ferment pgo_385.029 der Romanliteratur geblieben. Wieland in seinen hellenisirenden, pgo_385.030 die George Sand in ihren geistvollen und klassisch schönen Socialromanen pgo_385.031 haben sich von diesen sinnlich üppigen Auswüchsen nicht freigehalten, pgo_385.032 zu denen die Form des Romans selbst durch ihre gewährenlassende Breite pgo_385.033 herausfordert. Auf der andern Seite giebt es kaum eine religiöse, pgo_385.034 philosophische, politische, pädagogische, sociale Tendenz, welche nicht in pgo_385.035 neuester Zeit versucht hätte, im Gewand des Romans größere Beliebtheit
pgo_385.001 für den Roman, der ja nur ein Segment aus dem breiten Kreise des pgo_385.002 socialen Lebens herausschneidet und nicht, wie das Drama, eine scharfe pgo_385.003 Kollision in entscheidender Weise zum Ziele führt.
pgo_385.004 Dies Verlaufen in die Prosa des Lebens läßt die Grenzen des pgo_385.005 Romans nicht so scharf hervortreten, daß er als ideales Kunstwerk auf sich pgo_385.006 selbst ruhen könnte. Sein Zusammenhang mit äußerlichen Jnteressen, die pgo_385.007 für eine poetische Verklärung nicht durchsichtig genug sind, tritt nun auch pgo_385.008 in seinem Verlauf hervor; seine Form hat nicht genügende künstlerische pgo_385.009 Begrenzung, um das Hereinbrechen einer überfluthenden Prosa zu verhindern. pgo_385.010 Besonders nach zwei Seiten hin wird die reine Linie der pgo_385.011 Schönheit leicht überschritten: das unästhetisch sinnliche, materiell pgo_385.012 prickelnde, und das tendenziös didaktische Element trüben die künstlerische pgo_385.013 Reinheit des Romans und machen seine bequeme und geduldige Form pgo_385.014 zu einem Gefäß für die verschiedenartigsten Zwecke, welche außerhalb der pgo_385.015 selbstgenugsamen Harmonie des Schönen liegen. Die Effekthascherei pgo_385.016 durch grelle Situationen und eine gewaltthätige Spannung, wie sie in pgo_385.017 den alten Ritter- und Räuberromanen und in vielen neufranzösischen pgo_385.018 Socialromanen herrscht, zerstört die reine Wirkung des Schönen, indem pgo_385.019 sie mehr die Nerven, als den Geist in Erregung zu bringen sucht. Hierher pgo_385.020 gehört auch das erotische Element, das schon den Hellenischen pgo_385.021 Anfängen des Romans in starker Dosis beigemischt war. Der Roman pgo_385.022 gewährt bereitwillig den Raum zu einer behaglichen und breiten Ausmalung pgo_385.023 des sinnlich Ueppigen, der erotischen Situation. Seit dem pgo_385.024 Priapeischen Roman des Petronius bis zum Ritter Faublas von Louvet, pgo_385.025 bis zu Schlegel's „Lucinde,“ den sinnlichen diableries von Paul de pgo_385.026 Kock, der schönheitstrunkenen Orgiastik von Heinse, den harmlosen pgo_385.027 Nuditäten in Gutzkow's „Wally“ und den Pariser Salons von Heine pgo_385.028 ist der sinnliche Reiz und die sinnliche Spannung ein wesentliches Ferment pgo_385.029 der Romanliteratur geblieben. Wieland in seinen hellenisirenden, pgo_385.030 die George Sand in ihren geistvollen und klassisch schönen Socialromanen pgo_385.031 haben sich von diesen sinnlich üppigen Auswüchsen nicht freigehalten, pgo_385.032 zu denen die Form des Romans selbst durch ihre gewährenlassende Breite pgo_385.033 herausfordert. Auf der andern Seite giebt es kaum eine religiöse, pgo_385.034 philosophische, politische, pädagogische, sociale Tendenz, welche nicht in pgo_385.035 neuester Zeit versucht hätte, im Gewand des Romans größere Beliebtheit
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 385. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/407>, abgerufen am 22.11.2024.
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