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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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das eines idealen Schwunges fähig ist, und der Tragödie, welche die pgo_388.002
Höhenpunkte des innern Lebens in dichterischem Fluge streift, überlassen pgo_388.003
muß, die großen bekannten Helden und Katastrophen der Geschichte zum pgo_388.004
Gegenstande zu wählen. Die Tragödie hat sogar das Recht, die Geschichte pgo_388.005
bis zu einem gewissen Grade von innen heraus umzudichten, da sie pgo_388.006
energische ideale Hebel ansetzt, und der Pragmatismus der geschichtlichen pgo_388.007
That zuletzt doch mit jenen innersten Mysterien des Charakters zusammenhängt, pgo_388.008
zu deren Entzifferung der Dichter eher den Schlüssel hat, als der pgo_388.009
Historiker. Der Roman aber geht von außen an seinen Stoff heran; er pgo_388.010
stellt ihn in einer Breite der Beziehungen dar, deren wesentliche Voraussetzung pgo_388.011
die historische Treue ist. Da er sich ganz auf gleichem Boden pgo_388.012
mit der Geschichtschreibung bewegt, gleicher Entwickelungen und Vermittelungen pgo_388.013
bedarf: so ist er durch ihre feststehenden Daten bei allen pgo_388.014
Begebenheiten, die sich auf der Höhe der Weltgeschichte bewegen, beschränkt. pgo_388.015
Historische Romane, welche diese ihre Schranke nicht beachten, werden pgo_388.016
daher zu Zwitterbildungen der Geschichtschreibung und Romandichtung, pgo_388.017
in denen abwechselnd die Geschichte und die Dichtung die Arabesken des pgo_388.018
Bildes bilden. Da erhalten wir äußerlich ausgeschmückte Biographieen pgo_388.019
von "Mirabeau," auseinandergefaserte Memoiren u. s. f. Der Schöpfer pgo_388.020
des historischen Romans, Walter Scott, ist zwar in einzelnen Werken mit pgo_388.021
diesem mißlichen Beispiele vorangegangen; aber in seinen Hauptromanen, pgo_388.022
wie z. B. "Waverley" und "Quintin Durward," hat er nicht pgo_388.023
einen Fergus Mac Jvor und Ludwig XI. zum Helden, nicht die pragmatische pgo_388.024
Entwickelung des schottischen Rebellenkampfes und des französisch pgo_388.025
burgundischen Krieges zum Mittelpunkte des Romans gemacht, pgo_388.026
sondern die freierfundenen abenteuerlichen Schicksale selbstgeschaffener pgo_388.027
Helden, in welche dann jene historischen Persönlichkeiten miteingreifen. pgo_388.028
Der historische Roman soll uns das Kulturgemälde einer vergangenen pgo_388.029
Epoche entrollen und uns am Geschicke seiner Helden zeigen wie das pgo_388.030
menschliche Handeln und Empfinden durch die Bedingungen dieser Kultur pgo_388.031
bestimmt wird. Freilich liegt hier die Gefahr nahe, im Ausmalen des pgo_388.032
Kulturbildes in eine antiquarische Genauigkeit zu verfallen und das pgo_388.033
beschreibende Element in ungehöriger Breite auszubilden, eine Gefahr, pgo_388.034
die Walter Scott selbst um so weniger vermieden hat, als ihn gerade pgo_388.035
seine Vorliebe für antiquarische Studien, für die Denkmäler und Reminiscenzen

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 388. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/410>, abgerufen am 22.11.2024.