pgo_407.001 Seele der Thekla den Kampf der stummen Affekte, aus denen sich der pgo_407.002 dramatische Entschluß erzeugt. Diese Muster belehren uns, wann die pgo_407.003 Erzählungen im Drama undramatisch und müßig sind. Am unstatthaftesten pgo_407.004 sind sie am Anfange und Schluß des Drama in der Exposition pgo_407.005 und der Lösung! Die Exposition soll durch die Handlung selbst, durch pgo_407.006 frische Bewegung und Berührung der Charaktere vor sich gehn -- der pgo_407.007 Schluß aber die nothwendigen Konsequenzen der Handlung lebendig vor pgo_407.008 uns entrollen! Besonders ist jeder Abschluß verfehlt, wo die Erzählung pgo_407.009 einer bisher unbekannten Begebenheit den Knoten löst.
pgo_407.010 Ebenso wie das epische Element kann sich das lyrische aus dem dramatischen pgo_407.011 zur Selbstständigkeit entbinden! Keine Handlung, die nicht pgo_407.012 von Empfindung begleitet wäre -- der Affekt, die Leidenschaft, die Höhenpunkte pgo_407.013 der subjektiv-dramatischen Entwickelung sind ebenfalls Höhenpunkte pgo_407.014 der Empfindung. Das Lyrische wird daher an mehreren Stationen pgo_407.015 der dramatischen Handlung zum Durchbruch kommen. Jn der antiken pgo_407.016 Tragödie war der Chor das Organ einer schwunghaften, selbstständigen pgo_407.017 Lyrik, welche die Anregungen der dramatischen Handlung in freien Ergüssen, pgo_407.018 in denen freilich das Episch-Gnomische vorwog, in sich verarbeitete. pgo_407.019 Der Versuch, den Chor wieder einzuführen und der Lyrik im Drama ein pgo_407.020 anerkanntes Privilegium zu ertheilen, mißglückte ebenso in Ben Jonson's pgo_407.021 "Catilina," wie in Schiller's "Braut von Messina." Dagegen pgo_407.022 hatte nicht nur die Calderon'sche Romantik eine Fülle glühender Lyrik pgo_407.023 in den handelnden Charakteren des Stückes selbst verbunden, sondern pgo_407.024 auch der größte Dramatiker Shakespeare die tiefsinnigen Reflexionen und pgo_407.025 lyrischen Stimmungen des griechischen Chors in den Mund seiner Helden pgo_407.026 verlegt! Wie hätte dieser Dichter die Leidenschaft der Liebe in pgo_407.027 "Romeo und Julie" mit so meisterhaften Zügen schildern können, wenn pgo_407.028 ihm nicht der volle Ausdruck einer seelenvollen Lyrik zu Gebote gestanden! pgo_407.029 Je tiefer das Drama in das Jnnere des Menschen zurückging, die geheimsten pgo_407.030 Stimmungen der Seele belauschte, die Genesis der Leidenschaft durch pgo_407.031 alle ihre Stadien verfolgte: desto mehr mußte ein lyrischer Zug sich in pgo_407.032 das Dramatische verweben, ja es läßt sich behaupten, daß ohne dies pgo_407.033 lyrische Element sich keine dramatische Situation in ihrer Tiefe erschöpfen pgo_407.034 läßt. Wodurch unterscheiden sich die großen Dramatiker, ein Shakespearepgo_407.035 und Schiller, von den verständigen dramatischen Technikern,
pgo_407.001 Seele der Thekla den Kampf der stummen Affekte, aus denen sich der pgo_407.002 dramatische Entschluß erzeugt. Diese Muster belehren uns, wann die pgo_407.003 Erzählungen im Drama undramatisch und müßig sind. Am unstatthaftesten pgo_407.004 sind sie am Anfange und Schluß des Drama in der Exposition pgo_407.005 und der Lösung! Die Exposition soll durch die Handlung selbst, durch pgo_407.006 frische Bewegung und Berührung der Charaktere vor sich gehn — der pgo_407.007 Schluß aber die nothwendigen Konsequenzen der Handlung lebendig vor pgo_407.008 uns entrollen! Besonders ist jeder Abschluß verfehlt, wo die Erzählung pgo_407.009 einer bisher unbekannten Begebenheit den Knoten löst.
pgo_407.010 Ebenso wie das epische Element kann sich das lyrische aus dem dramatischen pgo_407.011 zur Selbstständigkeit entbinden! Keine Handlung, die nicht pgo_407.012 von Empfindung begleitet wäre — der Affekt, die Leidenschaft, die Höhenpunkte pgo_407.013 der subjektiv-dramatischen Entwickelung sind ebenfalls Höhenpunkte pgo_407.014 der Empfindung. Das Lyrische wird daher an mehreren Stationen pgo_407.015 der dramatischen Handlung zum Durchbruch kommen. Jn der antiken pgo_407.016 Tragödie war der Chor das Organ einer schwunghaften, selbstständigen pgo_407.017 Lyrik, welche die Anregungen der dramatischen Handlung in freien Ergüssen, pgo_407.018 in denen freilich das Episch-Gnomische vorwog, in sich verarbeitete. pgo_407.019 Der Versuch, den Chor wieder einzuführen und der Lyrik im Drama ein pgo_407.020 anerkanntes Privilegium zu ertheilen, mißglückte ebenso in Ben Jonson's pgo_407.021 „Catilina,“ wie in Schiller's „Braut von Messina.“ Dagegen pgo_407.022 hatte nicht nur die Calderon'sche Romantik eine Fülle glühender Lyrik pgo_407.023 in den handelnden Charakteren des Stückes selbst verbunden, sondern pgo_407.024 auch der größte Dramatiker Shakespeare die tiefsinnigen Reflexionen und pgo_407.025 lyrischen Stimmungen des griechischen Chors in den Mund seiner Helden pgo_407.026 verlegt! Wie hätte dieser Dichter die Leidenschaft der Liebe in pgo_407.027 „Romeo und Julie“ mit so meisterhaften Zügen schildern können, wenn pgo_407.028 ihm nicht der volle Ausdruck einer seelenvollen Lyrik zu Gebote gestanden! pgo_407.029 Je tiefer das Drama in das Jnnere des Menschen zurückging, die geheimsten pgo_407.030 Stimmungen der Seele belauschte, die Genesis der Leidenschaft durch pgo_407.031 alle ihre Stadien verfolgte: desto mehr mußte ein lyrischer Zug sich in pgo_407.032 das Dramatische verweben, ja es läßt sich behaupten, daß ohne dies pgo_407.033 lyrische Element sich keine dramatische Situation in ihrer Tiefe erschöpfen pgo_407.034 läßt. Wodurch unterscheiden sich die großen Dramatiker, ein Shakespearepgo_407.035 und Schiller, von den verständigen dramatischen Technikern,
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 407. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/429>, abgerufen am 22.11.2024.
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