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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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das letzte Facit seines Wesens. Der Konflikt muß nicht in seinen Eigenschaften, pgo_409.002
in innerer Zerfahrenheit und Haltlosigkeit liegen, sondern in pgo_409.003
seinem Geschick! Der Held darf zwischen zwei Entscheidungen schwanken, pgo_409.004
aber dies Schwanken verliert alles Jnteresse, wenn es eine Eigenthümlichkeit pgo_409.005
seines schwächlichen Charakters und daher eine alltägliche Lebensgewohnheit pgo_409.006
ist! Das Räthsel des Verhaltens der menschlichen Freiheit pgo_409.007
und Nothwendigkeit löst das Drama, wie das Leben selbst. Die Weltgeschichte pgo_409.008
ist das Weltgericht! Lear, Hamlet, Otello müssen, ihrer pgo_409.009
Charakteranlage nach, so handeln, wie sie handeln; aber ihre That gehört pgo_409.010
vor das sittliche Gericht, dessen Urtheilsspruch in der Katastrophe und pgo_409.011
dem Schluß des Drama liegt! Der Zufall ist von der Peripherie des pgo_409.012
Drama nicht ausgeschlossen, wohl aber von seinem Mittelpunkt. Er pgo_409.013
darf nicht in die wesentliche Entwickelung eingreifen, nicht die Katastrophe pgo_409.014
herbeiführen. Fiesko darf nicht, auf einem Brett ausgleitend, in's pgo_409.015
Meer stürzen -- dazu gehört die That des Republikaners Verrina. Der pgo_409.016
Zufall ist in der Tragödie nur der Regisseur des Schicksals, er setzt nur pgo_409.017
die Nothwendigkeit in Scene. Was z. B. in "Romeo und Julie" als pgo_409.018
Zufall erscheint: das ist nur Offenbarung der sich überstürzenden Leidenschaft! pgo_409.019
Der Dichter wählt eine Variation des Zufalls; er hätte vielleicht pgo_409.020
auch eine andere wählen können, wie im Schach verschiedene Züge zu dem pgo_409.021
gleichen Resultat führen; aber jede Variation ist in sich nothwendig und pgo_409.022
aus der Nothwendigkeit der Charaktere und des ganzen Plans hervorgegangen. pgo_409.023
Ein freieres Feld hat der Zufall im Lustspiel! Da erfreun wir pgo_409.024
uns an seinem bunten Spiel, an jenem geheimnißvollen Luftzug, der die pgo_409.025
Gestalten des Lebens zusammen und durcheinander weht! Doch auch hier pgo_409.026
muß aus seinen neckischen Eingriffen, die das Unberechenbare im menschlichen pgo_409.027
Leben in heiterer Weise vertreten, schließlich nur das hervorgehn, pgo_409.028
was in den Menschen und Verhältnissen selbst liegt.

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Schon die epische Handlung verfolgte ein bestimmtes Ziel, noch mehr pgo_409.030
gilt dies von der dramatischen, deren letzter Endzweck aus einer energischen pgo_409.031
Kollision der Zwecke hervorgeht. Die Charaktere des Drama pgo_409.032
interessiren uns wesentlich durch ihre Zwecke! Deshalb ist müßige Charaktermalerei pgo_409.033
episch! Der dramatische Charakter kann nicht so voll, so reich pgo_409.034
an Zügen, so behaglich ausgeführt sein! Er ist von Hause aus gespannt pgo_409.035
auf einen bestimmten Zweck und nur nach dieser Seite hin voll beleuchtet

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das letzte Facit seines Wesens. Der Konflikt muß nicht in seinen Eigenschaften, pgo_409.002
in innerer Zerfahrenheit und Haltlosigkeit liegen, sondern in pgo_409.003
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Kollision der Zwecke hervorgeht. Die Charaktere des Drama pgo_409.032
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episch! Der dramatische Charakter kann nicht so voll, so reich pgo_409.034
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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 409. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/431>, abgerufen am 22.11.2024.