pgo_410.001 Freilich muß der Dramatiker die Fabel so wählen, daß die Handlung pgo_410.002 gerade den innersten Schwerpunkt des Charakters klar macht! Die pgo_410.003 Achse, um welche die Handlung rotirt, muß auch die Achse des Charakters pgo_410.004 sein -- dann rotirt er mit ihr um sie und enthüllt in vollständigem Umschwung pgo_410.005 eine Seite nach der andern. Aristoteles nennt die "Tragödie" pgo_410.006 nicht die Nachahmung von Personen, sondern von Handlungen und pgo_410.007 Lebensverhältnissen und Glück und Unglück (denn auch dieses beruht auf pgo_410.008 Handlung), und ihr Endzweck ist eine Handlung, nicht eine Beschaffenheit. pgo_410.009 Nun besteht aber die Beschaffenheit der Handelnden in ihren pgo_410.010 Sitten, ihr Glück oder Unglück aber in ihren Handlungen. Also ist die pgo_410.011 Handlung nicht zum Behuf der Sittenschilderung da, sondern der Handlungen pgo_410.012 wegen wird die Sittenzeichnung mit umfaßt; und somit sind die pgo_410.013 Situationen und die Fabel der Endzweck der Tragödie:pgo_410.014 der Endzweck aber ist überall das Höchste. Ohne Handlung ist keine pgo_410.015 Tragödie möglich, ohne Sittenzeichnung aber ist sie möglich. Wenn pgo_410.016 man diesen Satz als Axiom festhält: so läßt sich die dramatische Auffassung pgo_410.017 des Charakteristischen bei Shakespeare und Moliere nur dadurch pgo_410.018 mit ihm versöhnen, daß wir für die Handlung und für den Charakter pgo_410.019 ein gemeinsames Centrum suchen. Die Vertiefung des Jndividuellen pgo_410.020 gehört der modernen Zeit an! Unsere Charakteristik verhält sich zur pgo_410.021 antiken, wie die bewegte Mimik unserer Darsteller zur regungslosen pgo_410.022 Maske der alten. Dennoch darf der Kreis der Handlung sich nicht zu pgo_410.023 einer Ellipse verschieben, wo die Bahn der handelnden Charaktere dem pgo_410.024 Mittelpunkte bald näher, bald ferner ist! Es ist fraglos, daß den alten pgo_410.025 Dramatikern zuerst die Fabel feststand, daß sie ganz naiv die Handlung pgo_410.026 erfaßten, während einem Shakespeare im "Timon" und "Hamlet," pgo_410.027 einem Ben Jonson im "Alchymisten," einem Moliere im "Avare" pgo_410.028 zuerst das Charakterbild vor der Seele schwebte, das in seinem Umschwung pgo_410.029 den Kreis der dramatischen Handlung beschreibt. Die Goetheschen pgo_410.030 Dramen sind fast alle Charaktergemälde, nicht einmal im Sinne pgo_410.031 Jonson's und Moliere's, mit kräftigen dramatischen Handhaben, sondern pgo_410.032 meistens duftige Seelengemälde. Goethe gelang es nicht, die pgo_410.033 Handlung zum Mittelpunkte seiner Dramen zu machen und die Charaktere pgo_410.034 an ihr und durch sie zu entwickeln. Bei ihm überwiegt die Gesinnung, pgo_410.035 das Ethos, die wechselnde Beleuchtung der Seele. Dagegen entsprechen
pgo_410.001 Freilich muß der Dramatiker die Fabel so wählen, daß die Handlung pgo_410.002 gerade den innersten Schwerpunkt des Charakters klar macht! Die pgo_410.003 Achse, um welche die Handlung rotirt, muß auch die Achse des Charakters pgo_410.004 sein — dann rotirt er mit ihr um sie und enthüllt in vollständigem Umschwung pgo_410.005 eine Seite nach der andern. Aristoteles nennt die „Tragödie“ pgo_410.006 nicht die Nachahmung von Personen, sondern von Handlungen und pgo_410.007 Lebensverhältnissen und Glück und Unglück (denn auch dieses beruht auf pgo_410.008 Handlung), und ihr Endzweck ist eine Handlung, nicht eine Beschaffenheit. pgo_410.009 Nun besteht aber die Beschaffenheit der Handelnden in ihren pgo_410.010 Sitten, ihr Glück oder Unglück aber in ihren Handlungen. Also ist die pgo_410.011 Handlung nicht zum Behuf der Sittenschilderung da, sondern der Handlungen pgo_410.012 wegen wird die Sittenzeichnung mit umfaßt; und somit sind die pgo_410.013 Situationen und die Fabel der Endzweck der Tragödie:pgo_410.014 der Endzweck aber ist überall das Höchste. Ohne Handlung ist keine pgo_410.015 Tragödie möglich, ohne Sittenzeichnung aber ist sie möglich. Wenn pgo_410.016 man diesen Satz als Axiom festhält: so läßt sich die dramatische Auffassung pgo_410.017 des Charakteristischen bei Shakespeare und Molière nur dadurch pgo_410.018 mit ihm versöhnen, daß wir für die Handlung und für den Charakter pgo_410.019 ein gemeinsames Centrum suchen. Die Vertiefung des Jndividuellen pgo_410.020 gehört der modernen Zeit an! Unsere Charakteristik verhält sich zur pgo_410.021 antiken, wie die bewegte Mimik unserer Darsteller zur regungslosen pgo_410.022 Maske der alten. Dennoch darf der Kreis der Handlung sich nicht zu pgo_410.023 einer Ellipse verschieben, wo die Bahn der handelnden Charaktere dem pgo_410.024 Mittelpunkte bald näher, bald ferner ist! Es ist fraglos, daß den alten pgo_410.025 Dramatikern zuerst die Fabel feststand, daß sie ganz naiv die Handlung pgo_410.026 erfaßten, während einem Shakespeare im „Timon“ und „Hamlet,“ pgo_410.027 einem Ben Jonson im „Alchymisten,“ einem Molière im „Avare“ pgo_410.028 zuerst das Charakterbild vor der Seele schwebte, das in seinem Umschwung pgo_410.029 den Kreis der dramatischen Handlung beschreibt. Die Goetheschen pgo_410.030 Dramen sind fast alle Charaktergemälde, nicht einmal im Sinne pgo_410.031 Jonson's und Molière's, mit kräftigen dramatischen Handhaben, sondern pgo_410.032 meistens duftige Seelengemälde. Goethe gelang es nicht, die pgo_410.033 Handlung zum Mittelpunkte seiner Dramen zu machen und die Charaktere pgo_410.034 an ihr und durch sie zu entwickeln. Bei ihm überwiegt die Gesinnung, pgo_410.035 das Ethos, die wechselnde Beleuchtung der Seele. Dagegen entsprechen
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Freilich muß der Dramatiker die Fabel so wählen, daß die Handlung pgo_410.002
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 410. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/432>, abgerufen am 22.11.2024.
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