Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.pgo_022.001 pgo_022.017 Was wir als Schönheit hier empfunden, pgo_022.029 Wird einst als Wahrheit uns entgegengehn. pgo_022.030 pgo_022.001 pgo_022.017 Was wir als Schönheit hier empfunden, pgo_022.029 Wird einst als Wahrheit uns entgegengehn. pgo_022.030 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0044" n="22"/><lb n="pgo_022.001"/> wiederschaut, die in ihm selbst lebt. Dennoch ist zwischen der Anschauung <lb n="pgo_022.002"/> Beider noch ein wesentlicher Unterschied. Dem interesselosen Denker verschwindet <lb n="pgo_022.003"/> alsbald die <hi rendition="#g">einzelne Erscheinung</hi> in der <hi rendition="#g">Jdee;</hi> er erkennt <lb n="pgo_022.004"/> und sucht nur das <hi rendition="#g">Wesen</hi> in der zufälligen <hi rendition="#g">Form;</hi> dem Künstler aber <lb n="pgo_022.005"/> ist die <hi rendition="#g">einzelne Erscheinung</hi> selbst <hi rendition="#g">Jdee;</hi> er braucht nicht über sie <lb n="pgo_022.006"/> hinauszugehn; die Jdee ist individuell lebendig, die Erscheinung unmittelbare <lb n="pgo_022.007"/> Gegenwart der Jdee. Dies ist die Offenbarung des <hi rendition="#g">Schönen.</hi> <lb n="pgo_022.008"/> Das <hi rendition="#g">Schöne</hi> ist also <hi rendition="#g">Jdee</hi> und nicht der Welt des Endlichen und <lb n="pgo_022.009"/> Zufälligen angehörig. Erst wenn wir uns über das eitle Reich der <lb n="pgo_022.010"/> Zwecke und des verstandesmäßigen Zusammenhanges erhoben haben in <lb n="pgo_022.011"/> eine Welt, wo uns unmittelbar der Strahl des Göttlichen berührt, <lb n="pgo_022.012"/> erreichen wir das Reich der Jdeeen und der Schönheit. Die Schönheit <lb n="pgo_022.013"/> ist daher auch dem zufälligen Belieben entnommen; jeder gemeine, materielle <lb n="pgo_022.014"/> Reiz ist ihr fremd; die Nachahmung des Wirklichen gehört nicht in <lb n="pgo_022.015"/> ihr Gebiet; sie ist allgemein gültig, wesentlich in ihren Bestimmungen <lb n="pgo_022.016"/> und gefällt mit Nothwendigkeit und ohne besonderes Jnteresse.</p> <p><lb n="pgo_022.017"/> Doch die <hi rendition="#g">Jdee des Schönen</hi> ist und bleibt <hi rendition="#g">anschaulich;</hi> und <lb n="pgo_022.018"/> gerade dadurch unterscheidet sich das Schöne vom <hi rendition="#g">Wahren</hi> und <hi rendition="#g">Guten.</hi> <lb n="pgo_022.019"/> Das Reich der <hi rendition="#g">Wahrheit</hi> ist das Reich des Denkens; <hi rendition="#g">wahr</hi> ist der <lb n="pgo_022.020"/> <hi rendition="#g">Gedanke,</hi> der sich als wirklich und vernünftig legitimiren kann. Diese <lb n="pgo_022.021"/> Beweisführung bedarf aber eines methodischen Ganges, der die Anschaulichkeit <lb n="pgo_022.022"/> ausschließt. Dennoch sehn wir, daß große Denker, wie <hi rendition="#g">Schelling,</hi> <lb n="pgo_022.023"/> die Kunst für das höchste Organon der Philosophie erklären und <lb n="pgo_022.024"/> gleichsam ihr Gedankengebäude mit der Kuppel des Schönen überwölben, <lb n="pgo_022.025"/> daß große Dichter, wie <hi rendition="#g">Schiller,</hi> es als Problem der Zukunft hinstellen, <lb n="pgo_022.026"/> die der Schönheit zugereifte Wissenschaft zum Kunstwerk zu adeln, und <lb n="pgo_022.027"/> begeistert ausrufen:</p> <lb n="pgo_022.028"/> <lg> <l>Was wir als Schönheit hier empfunden,</l> <lb n="pgo_022.029"/> <l>Wird einst als Wahrheit uns entgegengehn.</l> </lg> <p><lb n="pgo_022.030"/> Unleugbar groß ist die Verwandtschaft des <hi rendition="#g">Wahren</hi> und <hi rendition="#g">Schönen,</hi> <lb n="pgo_022.031"/> mag man nun das <hi rendition="#g">Schöne</hi> als ein Moment im Entwickelungsgange <lb n="pgo_022.032"/> der Erkenntniß ansehn oder auf ihrem Gipfel die Anschauung des <hi rendition="#g">Schönen</hi> <lb n="pgo_022.033"/> zum Vorbilde machen für die Anschauung des <hi rendition="#g">Wahren.</hi> Dennoch <lb n="pgo_022.034"/> ist das Jnteresse der Wahrheit ein anderes, als das der Schönheit, <lb n="pgo_022.035"/> das Jnteresse der Wissenschaft ein anderes, als das der Kunst. Dem </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [22/0044]
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wiederschaut, die in ihm selbst lebt. Dennoch ist zwischen der Anschauung pgo_022.002
Beider noch ein wesentlicher Unterschied. Dem interesselosen Denker verschwindet pgo_022.003
alsbald die einzelne Erscheinung in der Jdee; er erkennt pgo_022.004
und sucht nur das Wesen in der zufälligen Form; dem Künstler aber pgo_022.005
ist die einzelne Erscheinung selbst Jdee; er braucht nicht über sie pgo_022.006
hinauszugehn; die Jdee ist individuell lebendig, die Erscheinung unmittelbare pgo_022.007
Gegenwart der Jdee. Dies ist die Offenbarung des Schönen. pgo_022.008
Das Schöne ist also Jdee und nicht der Welt des Endlichen und pgo_022.009
Zufälligen angehörig. Erst wenn wir uns über das eitle Reich der pgo_022.010
Zwecke und des verstandesmäßigen Zusammenhanges erhoben haben in pgo_022.011
eine Welt, wo uns unmittelbar der Strahl des Göttlichen berührt, pgo_022.012
erreichen wir das Reich der Jdeeen und der Schönheit. Die Schönheit pgo_022.013
ist daher auch dem zufälligen Belieben entnommen; jeder gemeine, materielle pgo_022.014
Reiz ist ihr fremd; die Nachahmung des Wirklichen gehört nicht in pgo_022.015
ihr Gebiet; sie ist allgemein gültig, wesentlich in ihren Bestimmungen pgo_022.016
und gefällt mit Nothwendigkeit und ohne besonderes Jnteresse.
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Doch die Jdee des Schönen ist und bleibt anschaulich; und pgo_022.018
gerade dadurch unterscheidet sich das Schöne vom Wahren und Guten. pgo_022.019
Das Reich der Wahrheit ist das Reich des Denkens; wahr ist der pgo_022.020
Gedanke, der sich als wirklich und vernünftig legitimiren kann. Diese pgo_022.021
Beweisführung bedarf aber eines methodischen Ganges, der die Anschaulichkeit pgo_022.022
ausschließt. Dennoch sehn wir, daß große Denker, wie Schelling, pgo_022.023
die Kunst für das höchste Organon der Philosophie erklären und pgo_022.024
gleichsam ihr Gedankengebäude mit der Kuppel des Schönen überwölben, pgo_022.025
daß große Dichter, wie Schiller, es als Problem der Zukunft hinstellen, pgo_022.026
die der Schönheit zugereifte Wissenschaft zum Kunstwerk zu adeln, und pgo_022.027
begeistert ausrufen:
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Was wir als Schönheit hier empfunden, pgo_022.029
Wird einst als Wahrheit uns entgegengehn.
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Unleugbar groß ist die Verwandtschaft des Wahren und Schönen, pgo_022.031
mag man nun das Schöne als ein Moment im Entwickelungsgange pgo_022.032
der Erkenntniß ansehn oder auf ihrem Gipfel die Anschauung des Schönen pgo_022.033
zum Vorbilde machen für die Anschauung des Wahren. Dennoch pgo_022.034
ist das Jnteresse der Wahrheit ein anderes, als das der Schönheit, pgo_022.035
das Jnteresse der Wissenschaft ein anderes, als das der Kunst. Dem
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