Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.pgo_023.001 pgo_023.011 pgo_023.033 pgo_023.001 pgo_023.011 pgo_023.033 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0045" n="23"/><lb n="pgo_023.001"/> Denker gilt das einzelne anschauliche Object Nichts; er strebt darnach, das <lb n="pgo_023.002"/> innere Gesetz der Dinge zu erfassen. Jhm gilt nur der Gedanke, der <lb n="pgo_023.003"/> Begriff des Gegenstandes; er verwandelt das Sinnliche in ein Gedachtes. <lb n="pgo_023.004"/> Dem Künstler aber gilt das einzelne Object in seiner unmittelbaren <lb n="pgo_023.005"/> Sinnlichkeit Alles, indem die Jdee des Schönen nur in ihm lebendig ist. <lb n="pgo_023.006"/> Hiermit ist nicht ausgeschlossen, daß die sinnliche Anschauung des Schönen <lb n="pgo_023.007"/> auch eine im Geiste wiedergeborne sein kann, wie es z. B. in der <lb n="pgo_023.008"/> Poesie der Fall ist, oder daß die Gedankenwelt der künstlerischen Behandlung <lb n="pgo_023.009"/> den reichsten Stoff giebt; doch dann muß der Gedanke die sinnliche <lb n="pgo_023.010"/> Hülle borgen und die Wahrheit in der Schönheit aufgehn.</p> <p><lb n="pgo_023.011"/> Aehnlich verhält sich die Jdee des <hi rendition="#g">Guten</hi> zur Jdee des <hi rendition="#g">Schönen,</hi> <lb n="pgo_023.012"/> die der platonischen, ja der hellenischen Weltanschauung überhaupt in <lb n="pgo_023.013"/> Eins zerflossen (<foreign xml:lang="grc">καλὸν κἀγαθόν</foreign>). Doch das Gute erstrebt erst jene Harmonie, <lb n="pgo_023.014"/> die im Wesen des Schönen liegt. Der Standpunkt des <hi rendition="#g">Guten</hi> <lb n="pgo_023.015"/> ist die <hi rendition="#g">Forderung,</hi> der Standpunkt des <hi rendition="#g">Schönen</hi> die <hi rendition="#g">Vollendung.</hi> <lb n="pgo_023.016"/> Das Gute <hi rendition="#g">soll</hi> die Welt überwinden, das <hi rendition="#g">Schöne</hi> hat sie überwunden. <lb n="pgo_023.017"/> Nun wird sich zwar auch das <hi rendition="#g">Gute</hi> in seiner rastlosen Arbeit verwirklichen, <lb n="pgo_023.018"/> die Harmonie erreichen, die es erstrebt, und dann scheint es mit <lb n="pgo_023.019"/> dem Schönen zusammen zu fallen; aber das <hi rendition="#g">Gute</hi> ruht nicht aus in <lb n="pgo_023.020"/> der errungenen Versöhnung; es liegt in seinem Wesen, darüber hinauszugehn, <lb n="pgo_023.021"/> in neuer Arbeit nach neuen Zielen zu ringen. Jm <hi rendition="#g">Guten</hi> <lb n="pgo_023.022"/> erklärt sich das <hi rendition="#g">Soll</hi> für permanent, das im <hi rendition="#g">Schönen</hi> ein für alle <lb n="pgo_023.023"/> Mal aufgehoben ist. Jm Guten ringt der Wille ewig mit dem Stoff; <lb n="pgo_023.024"/> im Schönen scheint die Jdee aus dem verklärten Stoff heraus. Das <lb n="pgo_023.025"/> Gute kann Jnhalt des Schönen sein; dann gilt es aber nicht, weil es <lb n="pgo_023.026"/> gut, sondern weil es schön ist. Nimmt es an und für sich eine selbstständige <lb n="pgo_023.027"/> Geltung in Anspruch: so wird das Schöne durch den praktischen <lb n="pgo_023.028"/> Zweck, das moralische Sollen, die Absichtlichkeit zerstört. Jm Reiche der <lb n="pgo_023.029"/> „schönen Sittlichkeit,“ das in Hellas verwirklicht schien, das vielen Denkern <lb n="pgo_023.030"/> und Dichtern als Jdeal vorschwebt, ist daher nicht das Schöne im <lb n="pgo_023.031"/> Guten, sondern das Gute, dem stets ein unerquicklicher Rest bleibt, im <lb n="pgo_023.032"/> Schönen aufgehoben.</p> <p><lb n="pgo_023.033"/> Das Schöne ist <hi rendition="#g">Jdee,</hi> aber <hi rendition="#g">erscheinende</hi> Jdee, welche ohne Rest <lb n="pgo_023.034"/> in der <hi rendition="#g">einzelnen</hi> Erscheinung aufgeht. Dieser vollkommene Zusammenschluß <lb n="pgo_023.035"/> der Jdee und ihres Bildes macht das Wesen der Schönheit aus. </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [23/0045]
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Denker gilt das einzelne anschauliche Object Nichts; er strebt darnach, das pgo_023.002
innere Gesetz der Dinge zu erfassen. Jhm gilt nur der Gedanke, der pgo_023.003
Begriff des Gegenstandes; er verwandelt das Sinnliche in ein Gedachtes. pgo_023.004
Dem Künstler aber gilt das einzelne Object in seiner unmittelbaren pgo_023.005
Sinnlichkeit Alles, indem die Jdee des Schönen nur in ihm lebendig ist. pgo_023.006
Hiermit ist nicht ausgeschlossen, daß die sinnliche Anschauung des Schönen pgo_023.007
auch eine im Geiste wiedergeborne sein kann, wie es z. B. in der pgo_023.008
Poesie der Fall ist, oder daß die Gedankenwelt der künstlerischen Behandlung pgo_023.009
den reichsten Stoff giebt; doch dann muß der Gedanke die sinnliche pgo_023.010
Hülle borgen und die Wahrheit in der Schönheit aufgehn.
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Aehnlich verhält sich die Jdee des Guten zur Jdee des Schönen, pgo_023.012
die der platonischen, ja der hellenischen Weltanschauung überhaupt in pgo_023.013
Eins zerflossen (καλὸν κἀγαθόν). Doch das Gute erstrebt erst jene Harmonie, pgo_023.014
die im Wesen des Schönen liegt. Der Standpunkt des Guten pgo_023.015
ist die Forderung, der Standpunkt des Schönen die Vollendung. pgo_023.016
Das Gute soll die Welt überwinden, das Schöne hat sie überwunden. pgo_023.017
Nun wird sich zwar auch das Gute in seiner rastlosen Arbeit verwirklichen, pgo_023.018
die Harmonie erreichen, die es erstrebt, und dann scheint es mit pgo_023.019
dem Schönen zusammen zu fallen; aber das Gute ruht nicht aus in pgo_023.020
der errungenen Versöhnung; es liegt in seinem Wesen, darüber hinauszugehn, pgo_023.021
in neuer Arbeit nach neuen Zielen zu ringen. Jm Guten pgo_023.022
erklärt sich das Soll für permanent, das im Schönen ein für alle pgo_023.023
Mal aufgehoben ist. Jm Guten ringt der Wille ewig mit dem Stoff; pgo_023.024
im Schönen scheint die Jdee aus dem verklärten Stoff heraus. Das pgo_023.025
Gute kann Jnhalt des Schönen sein; dann gilt es aber nicht, weil es pgo_023.026
gut, sondern weil es schön ist. Nimmt es an und für sich eine selbstständige pgo_023.027
Geltung in Anspruch: so wird das Schöne durch den praktischen pgo_023.028
Zweck, das moralische Sollen, die Absichtlichkeit zerstört. Jm Reiche der pgo_023.029
„schönen Sittlichkeit,“ das in Hellas verwirklicht schien, das vielen Denkern pgo_023.030
und Dichtern als Jdeal vorschwebt, ist daher nicht das Schöne im pgo_023.031
Guten, sondern das Gute, dem stets ein unerquicklicher Rest bleibt, im pgo_023.032
Schönen aufgehoben.
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Das Schöne ist Jdee, aber erscheinende Jdee, welche ohne Rest pgo_023.034
in der einzelnen Erscheinung aufgeht. Dieser vollkommene Zusammenschluß pgo_023.035
der Jdee und ihres Bildes macht das Wesen der Schönheit aus.
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