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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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dramatischer Stoffe benutzten; es ist ebenso bekannt, wie Shakespeare pgo_420.002
diese zufällig gefundenen Stoffe nicht etwa blos dramatisch einkleidete, pgo_420.003
sondern mit der Macht seines tragischen Genius umschuf und unter die pgo_420.004
großen Perspektiven seiner genialen Weltanschauung rückte. Man hat pgo_420.005
soviel Tadelnswerthes des großen Britten nachgeahmt -- warum ist pgo_420.006
man nicht auch hierin seinem Vorgang nachgefolgt? Aehnlich jenen pgo_420.007
italienischen Novellen, deren Hauptvorzug in einer phantasievollen Erfindung pgo_420.008
bestand, erscheinen die neuern französischen Novellen und Romane pgo_420.009
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sie in genialer Weise umdichtete: so dürfte auch für die moderne deutsche pgo_420.011
Dramatik in diesen phantasievollen stoffartigen Produktionen ein glücklicher pgo_420.012
Rohstoff vorliegen, der durch künstlerische und geniale Behandlung pgo_420.013
sich zu bedeutungsvollen Dramen umgestalten ließe. Der deutsche pgo_420.014
Genius würde nicht nur die dramatische Kunstform, sondern auch den pgo_420.015
tiefern Grundgedanken für jene Stoffe erst schaffen müssen; aber diese pgo_420.016
novellistischen Anregungen zu verschmähn, ist für einen modernen Dramatiker pgo_420.017
so wenig ein Grund vorhanden, als für Shakespeare, einen bereits pgo_420.018
von den Jtalienern Luigi da Porto und Bandello, von dem Franzosen pgo_420.019
Boisteau und seinem englischen Uebersetzer Painter in Novellenform, pgo_420.020
von Arthur Brooke als lyrisch-episches Gedicht behandelten pgo_420.021
Stoff zur Grundlage seiner Tragödie Romeo und Julie zu nehmen.



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Zweiter Abschnitt.
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Die Technik des Drama.

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Keine Dichtform hat eine so unerbittliche Logik, wie die dramatische; pgo_420.025
keine bedarf einer solchen Korrektheit des innern Zusammenhanges. Hierzu pgo_420.026
kommt, daß das Drama für die Aufführung geschrieben ist und sich nach pgo_420.027
den Anforderungen der Bühne richten muß. So ist seine Technik eine pgo_420.028
vielfach schwierige und verwickelte; und nirgends im Bereich der Poesie pgo_420.029
gilt so wie hier der Goethe'sche Spruch:

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Jn der Beschränkung nur zeigt sich der Meister!

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Jedes Hinausstürmen über die gegebenen Schranken vereitelt die

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[420/0442] pgo_420.001 dramatischer Stoffe benutzten; es ist ebenso bekannt, wie Shakespeare pgo_420.002 diese zufällig gefundenen Stoffe nicht etwa blos dramatisch einkleidete, pgo_420.003 sondern mit der Macht seines tragischen Genius umschuf und unter die pgo_420.004 großen Perspektiven seiner genialen Weltanschauung rückte. Man hat pgo_420.005 soviel Tadelnswerthes des großen Britten nachgeahmt — warum ist pgo_420.006 man nicht auch hierin seinem Vorgang nachgefolgt? Aehnlich jenen pgo_420.007 italienischen Novellen, deren Hauptvorzug in einer phantasievollen Erfindung pgo_420.008 bestand, erscheinen die neuern französischen Novellen und Romane pgo_420.009 — und wie die altenglische Dramatik sich jener Stoffe bemächtigte und pgo_420.010 sie in genialer Weise umdichtete: so dürfte auch für die moderne deutsche pgo_420.011 Dramatik in diesen phantasievollen stoffartigen Produktionen ein glücklicher pgo_420.012 Rohstoff vorliegen, der durch künstlerische und geniale Behandlung pgo_420.013 sich zu bedeutungsvollen Dramen umgestalten ließe. Der deutsche pgo_420.014 Genius würde nicht nur die dramatische Kunstform, sondern auch den pgo_420.015 tiefern Grundgedanken für jene Stoffe erst schaffen müssen; aber diese pgo_420.016 novellistischen Anregungen zu verschmähn, ist für einen modernen Dramatiker pgo_420.017 so wenig ein Grund vorhanden, als für Shakespeare, einen bereits pgo_420.018 von den Jtalienern Luigi da Porto und Bandello, von dem Franzosen pgo_420.019 Boisteau und seinem englischen Uebersetzer Painter in Novellenform, pgo_420.020 von Arthur Brooke als lyrisch-episches Gedicht behandelten pgo_420.021 Stoff zur Grundlage seiner Tragödie Romeo und Julie zu nehmen. pgo_420.022 Zweiter Abschnitt. pgo_420.023 Die Technik des Drama. pgo_420.024 Keine Dichtform hat eine so unerbittliche Logik, wie die dramatische; pgo_420.025 keine bedarf einer solchen Korrektheit des innern Zusammenhanges. Hierzu pgo_420.026 kommt, daß das Drama für die Aufführung geschrieben ist und sich nach pgo_420.027 den Anforderungen der Bühne richten muß. So ist seine Technik eine pgo_420.028 vielfach schwierige und verwickelte; und nirgends im Bereich der Poesie pgo_420.029 gilt so wie hier der Goethe'sche Spruch: pgo_420.030 Jn der Beschränkung nur zeigt sich der Meister! pgo_420.031 Jedes Hinausstürmen über die gegebenen Schranken vereitelt die

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 420. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/442>, abgerufen am 22.11.2024.