pgo_427.001 Südens; hier, im Einklang mit den Verbrechen des ehrgeizigen Mordes, pgo_427.002 die unheimliche Sturmesnacht des Nordens, in welcher die Eule krächzt pgo_427.003 und der Wolf auf seinen Raub ausgeht. Das historische Drama muß pgo_427.004 uns den Hintergrund der Kultur, den der Epiker in aller Breite auszumalen pgo_427.005 berechtigt ist, den Geist der geschichtlichen Epoche und des Volkslebens pgo_427.006 mit wenigen, aber schlagenden und lebensvollen Zügen darstellen, pgo_427.007 die uns in die Stimmung jener Zeit versetzen. Jn dieser Beziehung sind pgo_427.008 z. B. die ersten Akte des Egmont und Wilhelm Tell meisterhaft! Dort pgo_427.009 befinden wir uns mitten in der rührigen und frischen Bürgerlichkeit des pgo_427.010 niederländischen Volkes, welche im Helden der Tragödie eine ideale pgo_427.011 Gestalt gewinnt; hier tritt uns die große, freie Natur der Alpen und des pgo_427.012 Schweizer Volkslebens entgegen, dessen thatkräftige Rüstigkeit sich im pgo_427.013 energischen Auftreten des Helden spiegelt. Der erste Akt versetzt uns also pgo_427.014 in die Situation des Drama, die keine ruhende, sondern von pgo_427.015 Anfang an nach der Zukunft hin bewegt ist, und in die dramatische pgo_427.016 Stimmung. Er zeigt uns die Wurzeln der Handlung in ihrem pgo_427.017 Wachsthum, und sein organischer Schlußpunkt ist dort, wo ihre ersten pgo_427.018 Keimblätter sichtbar an's Licht hervortreten. Der Schluß des ersten pgo_427.019 Aktes ist am wirksamsten, wenn er uns eine spannende Perspektivepgo_427.020 in die Zukunft eröffnet, wenn er uns, wie mit einem Blitze, das Reich der pgo_427.021 Möglichkeiten erhellt, innerhalb dessen die Handlung verlaufen kann.
pgo_427.022 Der zweite Akt schürzt den Knoten der dramatischen Verwickelung pgo_427.023 enger, giebt dem Konflikt des Drama schärfere Bestimmtheit. Sind, wie im pgo_427.024 "König Lear" oder "Kaufmann von Venedig" mehrere Gruppen da, welche pgo_427.025 eine Grundidee spiegeln: so läßt der zweite Akt sie beide noch selbstständig pgo_427.026 bestehn, vertieft und entfaltet nur die gesonderte Handlung. Er schließt pgo_427.027 am besten mit einem folgenreichen Entschluß, z. B. in "Maria Stuart" pgo_427.028 mit dem Entschluß der Elisabeth, die gefangene Königin in Fotheringhay- pgo_427.029 Schloß zu sehn. Jst die Handlung des Drama in eine Reihe von pgo_427.030 Thaten zerfällt, deren innere Einheit die bewegende Leidenschaft des pgo_427.031 Helden ist: so kann schon im zweiten Akt eine entscheidende That geschehn. pgo_427.032 So die Ermordung des Königs Dunkan im zweiten Akt des "Macbeth," pgo_427.033 die erste That in jener unheilvollen Kette der Verbrechen.
pgo_427.034 Der dritte Akt ist der centrale Akt des Drama, der Mittelpunkt pgo_427.035 der Handlung. Der zweite Akt hat den Konflikt weiter entwickelt; der
pgo_427.001 Südens; hier, im Einklang mit den Verbrechen des ehrgeizigen Mordes, pgo_427.002 die unheimliche Sturmesnacht des Nordens, in welcher die Eule krächzt pgo_427.003 und der Wolf auf seinen Raub ausgeht. Das historische Drama muß pgo_427.004 uns den Hintergrund der Kultur, den der Epiker in aller Breite auszumalen pgo_427.005 berechtigt ist, den Geist der geschichtlichen Epoche und des Volkslebens pgo_427.006 mit wenigen, aber schlagenden und lebensvollen Zügen darstellen, pgo_427.007 die uns in die Stimmung jener Zeit versetzen. Jn dieser Beziehung sind pgo_427.008 z. B. die ersten Akte des Egmont und Wilhelm Tell meisterhaft! Dort pgo_427.009 befinden wir uns mitten in der rührigen und frischen Bürgerlichkeit des pgo_427.010 niederländischen Volkes, welche im Helden der Tragödie eine ideale pgo_427.011 Gestalt gewinnt; hier tritt uns die große, freie Natur der Alpen und des pgo_427.012 Schweizer Volkslebens entgegen, dessen thatkräftige Rüstigkeit sich im pgo_427.013 energischen Auftreten des Helden spiegelt. Der erste Akt versetzt uns also pgo_427.014 in die Situation des Drama, die keine ruhende, sondern von pgo_427.015 Anfang an nach der Zukunft hin bewegt ist, und in die dramatische pgo_427.016 Stimmung. Er zeigt uns die Wurzeln der Handlung in ihrem pgo_427.017 Wachsthum, und sein organischer Schlußpunkt ist dort, wo ihre ersten pgo_427.018 Keimblätter sichtbar an's Licht hervortreten. Der Schluß des ersten pgo_427.019 Aktes ist am wirksamsten, wenn er uns eine spannende Perspektivepgo_427.020 in die Zukunft eröffnet, wenn er uns, wie mit einem Blitze, das Reich der pgo_427.021 Möglichkeiten erhellt, innerhalb dessen die Handlung verlaufen kann.
pgo_427.022 Der zweite Akt schürzt den Knoten der dramatischen Verwickelung pgo_427.023 enger, giebt dem Konflikt des Drama schärfere Bestimmtheit. Sind, wie im pgo_427.024 „König Lear“ oder „Kaufmann von Venedig“ mehrere Gruppen da, welche pgo_427.025 eine Grundidee spiegeln: so läßt der zweite Akt sie beide noch selbstständig pgo_427.026 bestehn, vertieft und entfaltet nur die gesonderte Handlung. Er schließt pgo_427.027 am besten mit einem folgenreichen Entschluß, z. B. in „Maria Stuart“ pgo_427.028 mit dem Entschluß der Elisabeth, die gefangene Königin in Fotheringhay- pgo_427.029 Schloß zu sehn. Jst die Handlung des Drama in eine Reihe von pgo_427.030 Thaten zerfällt, deren innere Einheit die bewegende Leidenschaft des pgo_427.031 Helden ist: so kann schon im zweiten Akt eine entscheidende That geschehn. pgo_427.032 So die Ermordung des Königs Dunkan im zweiten Akt des „Macbeth,“ pgo_427.033 die erste That in jener unheilvollen Kette der Verbrechen.
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 427. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/449>, abgerufen am 22.11.2024.
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