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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Tragödie nicht blos erweckt, sondern auch gereinigt; das Einzelschicksal, pgo_440.002
das uns vorgeführt wird, erweitert sich zum Schicksal der Welt; die pgo_440.003
Kraft des ringenden Helden wird zur Kraft des Menschen überhaupt, die pgo_440.004
wir im eigenen Busen fühlen, die mit der Macht der Bedrängniß wächst pgo_440.005
und die Majestät des Geistes zu voller Glorie entfaltet; der Untergang pgo_440.006
des Helden aber läßt den Tod nicht als eine Nothwendigkeit oder einen pgo_440.007
Zufall der Natur erscheinen, sondern giebt ihm eine sittliche Bedeutung. pgo_440.008
So wird unsere Furcht, unser Mitleid gereinigt, und die Tragödie pgo_440.009
wirkt eine freie Erhebung des Geistes. Jndem der Held durch eine Einseitigkeit pgo_440.010
und Maaßlosigkeit seines Charakters untergeht, triumphirt in pgo_440.011
seinem Untergang die sittliche Harmonie; fällt er aber einer Kollision der pgo_440.012
Pflichten zum Opfer, so schließt sich in seinem Tod der gebrochene Kreis der pgo_440.013
sittlichen Mächte wieder zur Einheit zusammen. Niemals darf indeß pgo_440.014
der moderne Tragiker auf stoffartige Wirkungen hinarbeiten, weder auf pgo_440.015
die grellen Schauer, den glänzenden Pomp, die prickelnden Ueberreizungen pgo_440.016
des Bühneneffekts, noch auf Eindrücke und Erfolge, die aus einem pgo_440.017
Anschmiegen an Stichwörter des Tages und seiner Parteien aus einer pgo_440.018
äußerlichen Tendenzhascherei hervorgehn.

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Die Diktion der Tragödie muß Wohllaut (eduomeno logo Arist.), pgo_440.020
Adel und Würde haben; sie muß uns in einen geläuterten Aether erheben, pgo_440.021
in welchem alles Flache und Triviale ausgeschlossen ist, das sich mit den pgo_440.022
letzten Zwecken der Tragödie nicht verträgt. Dabei darf ihr die charakteristische pgo_440.023
Angemessenheit nicht fehlen. Die Sprache der griechischen pgo_440.024
Tragiker ist für unser Drama nicht individuell und bewegt genug; die pgo_440.025
Diktion Shakespeare's nicht frei von Plattheiten und charakteristischen pgo_440.026
Ueberladungen. Die Vereinigung dieser beiden Gegensätze ist das Jdeal pgo_440.027
der tragischen Diktion für unsere Bühne. Hier steht Schiller wieder als pgo_440.028
klassisches Muster da -- nur daß sein Styl bei seinen Nachahmern zu einer pgo_440.029
feststehenden Manier wurde, welche durch die einförmige Behandlung des pgo_440.030
Jambus zu matten Deklamationen verführte. Das neue deutsche pgo_440.031
Drama -- wir erinnern nur an Gutzkow, Laube und Hebbel -- ist pgo_440.032
auf dem richtigen Wege, jenes Jdeal des echt dramatischen Styles zu pgo_440.033
erreichen, ohne in eine sclavische Nachahmung Schiller's zu verfallen. pgo_440.034
Was das tiefere Gepräge der dramatischen Diktion betrifft, so hängt es pgo_440.035
mit der Eigenthümlichkeit des dichterischen Genius zusammen, und

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[440/0462] pgo_440.001 Tragödie nicht blos erweckt, sondern auch gereinigt; das Einzelschicksal, pgo_440.002 das uns vorgeführt wird, erweitert sich zum Schicksal der Welt; die pgo_440.003 Kraft des ringenden Helden wird zur Kraft des Menschen überhaupt, die pgo_440.004 wir im eigenen Busen fühlen, die mit der Macht der Bedrängniß wächst pgo_440.005 und die Majestät des Geistes zu voller Glorie entfaltet; der Untergang pgo_440.006 des Helden aber läßt den Tod nicht als eine Nothwendigkeit oder einen pgo_440.007 Zufall der Natur erscheinen, sondern giebt ihm eine sittliche Bedeutung. pgo_440.008 So wird unsere Furcht, unser Mitleid gereinigt, und die Tragödie pgo_440.009 wirkt eine freie Erhebung des Geistes. Jndem der Held durch eine Einseitigkeit pgo_440.010 und Maaßlosigkeit seines Charakters untergeht, triumphirt in pgo_440.011 seinem Untergang die sittliche Harmonie; fällt er aber einer Kollision der pgo_440.012 Pflichten zum Opfer, so schließt sich in seinem Tod der gebrochene Kreis der pgo_440.013 sittlichen Mächte wieder zur Einheit zusammen. Niemals darf indeß pgo_440.014 der moderne Tragiker auf stoffartige Wirkungen hinarbeiten, weder auf pgo_440.015 die grellen Schauer, den glänzenden Pomp, die prickelnden Ueberreizungen pgo_440.016 des Bühneneffekts, noch auf Eindrücke und Erfolge, die aus einem pgo_440.017 Anschmiegen an Stichwörter des Tages und seiner Parteien aus einer pgo_440.018 äußerlichen Tendenzhascherei hervorgehn. pgo_440.019 Die Diktion der Tragödie muß Wohllaut (ἡδυομένῳ λόγῳ Arist.), pgo_440.020 Adel und Würde haben; sie muß uns in einen geläuterten Aether erheben, pgo_440.021 in welchem alles Flache und Triviale ausgeschlossen ist, das sich mit den pgo_440.022 letzten Zwecken der Tragödie nicht verträgt. Dabei darf ihr die charakteristische pgo_440.023 Angemessenheit nicht fehlen. Die Sprache der griechischen pgo_440.024 Tragiker ist für unser Drama nicht individuell und bewegt genug; die pgo_440.025 Diktion Shakespeare's nicht frei von Plattheiten und charakteristischen pgo_440.026 Ueberladungen. Die Vereinigung dieser beiden Gegensätze ist das Jdeal pgo_440.027 der tragischen Diktion für unsere Bühne. Hier steht Schiller wieder als pgo_440.028 klassisches Muster da — nur daß sein Styl bei seinen Nachahmern zu einer pgo_440.029 feststehenden Manier wurde, welche durch die einförmige Behandlung des pgo_440.030 Jambus zu matten Deklamationen verführte. Das neue deutsche pgo_440.031 Drama — wir erinnern nur an Gutzkow, Laube und Hebbel — ist pgo_440.032 auf dem richtigen Wege, jenes Jdeal des echt dramatischen Styles zu pgo_440.033 erreichen, ohne in eine sclavische Nachahmung Schiller's zu verfallen. pgo_440.034 Was das tiefere Gepräge der dramatischen Diktion betrifft, so hängt es pgo_440.035 mit der Eigenthümlichkeit des dichterischen Genius zusammen, und

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 440. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/462>, abgerufen am 22.11.2024.