pgo_025.001 völlig ausgebildet, so daß er in ihr befriedigt ruht und sich selbst faßt, pgo_025.002 erheitert er sich gleichsam und fängt an, in sanften Linien sich zu pgo_025.003 bewegen. Dieses ist der Zustand der schönsten Blüthe und Reife, wo pgo_025.004 das reine Gefäß vollendet dasteht, der Naturgeist frei wird von seinen pgo_025.005 Banden und seine Verwandtschaft mit der Seele empfindet. Wie durch pgo_025.006 eine linde Morgenröthe, die über der ganzen Gestalt aufsteigt, kündigt pgo_025.007 sich die kommende Seele an: noch ist sie nicht da, aber Alles bereitet sich pgo_025.008 durch das leise Spiel zarter Bewegungen zu ihrem Empfange. Die pgo_025.009 starren Umrisse schmelzen und mildern sich in sanfte. Ein liebliches pgo_025.010 Wesen, das weder sinnlich noch geistig, sondern unfaßlich ist, verbreitet pgo_025.011 sich über die Gestalt und schmiegt sich allen Umrissen, jeder Schwingung pgo_025.012 der Gliedmaßen an. Dieses, wie gesagt, nicht greifliche und doch Allen pgo_025.013 empfindbare Wesen ist es, was die Sprache der Griechen mit dem Namen pgo_025.014 der Charis, die unsrige als Anmuth bezeichnet."
pgo_025.015 Wir haben gesehn, daß die Schönheit die Einheit der Jdee und pgo_025.016 des Bildes, ihre vollkommene Harmonie ist. Diese Harmonie aber pgo_025.017 wird aufgelöst, nicht zerstört; die Jdee sprengt mit triumphirender pgo_025.018 Gewalt das Band dieser Einheit; sie greift über das Bild hinaus; sie pgo_025.019 erhebt sich über die Gestalt -- und das ist das Wesen des Erhabenen.pgo_025.020 Doch auch diese kühne Ausweichung muß zur Harmonie zurückkehren, pgo_025.021 die dann um so vollkommener ist, da sie den Widerspruch überwunden pgo_025.022 in sich aufgenommen. Jn diesem Erheben liegt zugleich eine pgo_025.023 Thätigkeit! Je plötzlicher es stattfindet, desto imposanter ist seine pgo_025.024 Wirkung, desto rascher scheint die Schranke der Gestalt zerbrochen. pgo_025.025 Daß sie dies aber in Wahrheit nicht ist, daß die Form gleichsam gewaltig pgo_025.026 ausgedehnt, aber doch nicht formlos wird -- das ist das Geheimniß pgo_025.027 des Erhabenen. Die Elasticität des Schönen wird durch das Erhabene pgo_025.028 am meisten angestrengt, aber nicht gebrochen. Das reine Schauen, das pgo_025.029 uns dem Schönen gegenüber erquickte, wird durch das Erhabene pgo_025.030 erschwert, indem es uns gewaltsam aus seiner Sphäre reißt. Ueberlegene pgo_025.031 oder ungeahnte Kräfte, furchtbare Gewalten aus dem Reiche der pgo_025.032 Natur und des Geistes stürmen auf uns ein und drohen mit ihrer pgo_025.033 unendlichen Macht den schauenden Geist zu erdrücken. Er fühlt sich nicht pgo_025.034 mehr als das reine, denkende und schauende Wesen; er fühlt sich auf einmal pgo_025.035 in seiner Endlichkeit. Aber daß er doch wieder mit kühnem Kampfe
pgo_025.001 völlig ausgebildet, so daß er in ihr befriedigt ruht und sich selbst faßt, pgo_025.002 erheitert er sich gleichsam und fängt an, in sanften Linien sich zu pgo_025.003 bewegen. Dieses ist der Zustand der schönsten Blüthe und Reife, wo pgo_025.004 das reine Gefäß vollendet dasteht, der Naturgeist frei wird von seinen pgo_025.005 Banden und seine Verwandtschaft mit der Seele empfindet. Wie durch pgo_025.006 eine linde Morgenröthe, die über der ganzen Gestalt aufsteigt, kündigt pgo_025.007 sich die kommende Seele an: noch ist sie nicht da, aber Alles bereitet sich pgo_025.008 durch das leise Spiel zarter Bewegungen zu ihrem Empfange. Die pgo_025.009 starren Umrisse schmelzen und mildern sich in sanfte. Ein liebliches pgo_025.010 Wesen, das weder sinnlich noch geistig, sondern unfaßlich ist, verbreitet pgo_025.011 sich über die Gestalt und schmiegt sich allen Umrissen, jeder Schwingung pgo_025.012 der Gliedmaßen an. Dieses, wie gesagt, nicht greifliche und doch Allen pgo_025.013 empfindbare Wesen ist es, was die Sprache der Griechen mit dem Namen pgo_025.014 der Charis, die unsrige als Anmuth bezeichnet.“
pgo_025.015 Wir haben gesehn, daß die Schönheit die Einheit der Jdee und pgo_025.016 des Bildes, ihre vollkommene Harmonie ist. Diese Harmonie aber pgo_025.017 wird aufgelöst, nicht zerstört; die Jdee sprengt mit triumphirender pgo_025.018 Gewalt das Band dieser Einheit; sie greift über das Bild hinaus; sie pgo_025.019 erhebt sich über die Gestalt — und das ist das Wesen des Erhabenen.pgo_025.020 Doch auch diese kühne Ausweichung muß zur Harmonie zurückkehren, pgo_025.021 die dann um so vollkommener ist, da sie den Widerspruch überwunden pgo_025.022 in sich aufgenommen. Jn diesem Erheben liegt zugleich eine pgo_025.023 Thätigkeit! Je plötzlicher es stattfindet, desto imposanter ist seine pgo_025.024 Wirkung, desto rascher scheint die Schranke der Gestalt zerbrochen. pgo_025.025 Daß sie dies aber in Wahrheit nicht ist, daß die Form gleichsam gewaltig pgo_025.026 ausgedehnt, aber doch nicht formlos wird — das ist das Geheimniß pgo_025.027 des Erhabenen. Die Elasticität des Schönen wird durch das Erhabene pgo_025.028 am meisten angestrengt, aber nicht gebrochen. Das reine Schauen, das pgo_025.029 uns dem Schönen gegenüber erquickte, wird durch das Erhabene pgo_025.030 erschwert, indem es uns gewaltsam aus seiner Sphäre reißt. Ueberlegene pgo_025.031 oder ungeahnte Kräfte, furchtbare Gewalten aus dem Reiche der pgo_025.032 Natur und des Geistes stürmen auf uns ein und drohen mit ihrer pgo_025.033 unendlichen Macht den schauenden Geist zu erdrücken. Er fühlt sich nicht pgo_025.034 mehr als das reine, denkende und schauende Wesen; er fühlt sich auf einmal pgo_025.035 in seiner Endlichkeit. Aber daß er doch wieder mit kühnem Kampfe
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/47>, abgerufen am 21.11.2024.
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