pgo_454.001 Literatur" hinwies, hat neuerdings Vischer im letzten Hefte seiner pgo_454.002 Aesthetik auf das Klarste und Bestimmteste ausgesprochen: "Shakespeare's pgo_454.003 Styl, geläutert durch wahre, freie Aneignung des pgo_454.004 Antiken." Jn der That bewegen sich um diesen Punkt die Schiller'- pgo_454.005 schen und Göthe'schen Tragödieen, bald mehr nach der einen, bald mehr pgo_454.006 nach der andern Seite sich neigend. Die schönste Mitte hat Schillerpgo_454.007 im "Wallenstein" und in der "Maria Stuart" erreicht. Die individuelle pgo_454.008 Kraft der Charakteristik, der scharf bestimmte und mannichfach gefärbte pgo_454.009 Ausdruck des dramatischen Pathos, die psychologische Entwicklung der pgo_454.010 Leidenschaft, die sinn- und gedankenreiche Darstellung der Menschenwelt pgo_454.011 von Shakespeare, ohne die Formlosigkeiten seiner Komposition, die pgo_454.012 oft schwülstige Bizarrerie seines Ausdruckes, die Uebertreibungen und pgo_454.013 Geschmacklosigkeiten seiner Epoche; die Harmonie und Klarheit des pgo_454.014 Styles, den künstlerischen Adel der Form, die fesselnde Einheit der pgo_454.015 Handlung von der antiken Tragödie ohne ihre engen Beschränkungen pgo_454.016 in Zeit und Ort, ohne den unorganischen "Chor," ohne ihre zu plastisch pgo_454.017 allgemeine Haltung, ohne ihre mythischen Stoffe und fatalistische Tendenz pgo_454.018 -- das ist das Erbe der echten Kunstform, das unsere neuere Tragödie pgo_454.019 anzutreten hat und auch anzutreten sucht, und das der echte Genius, pgo_454.020 der im Mittelpunkte unserer Bildung steht, aus sich selbst hervorbringt. pgo_454.021 Nach dem Jnhalte ist die moderne Tragödie eine historische oder bürgerliche.pgo_454.022 Die Aufgabe der Gegenwart ist, die historische Tragödie pgo_454.023 zur politischen, die bürgerliche zur socialen zur erheben. Wir verstehn pgo_454.024 hier das Wort "politisch" nicht im Sinne der Tagestendenzen, pgo_454.025 sondern wir meinen damit nur, daß der Stoff einer geschichtlichen Tragödie pgo_454.026 sich um staatliche Konflikte drehe, welche von Jnteresse für die pgo_454.027 Gegenwart sind, daß man nicht historische Stoffe aus der Zeit Attila's pgo_454.028 und Alarich's, der Karolinger und Kapetinger wähle, sondern aus pgo_454.029 Epochen, die unserer Zeit nahe verwandt sind, oder in denen sie unmittelbar pgo_454.030 wurzelt. "Die Perser" des Aeschylos, "Heinrich VIII." von pgo_454.031 Shakespeare, "der Sieg des Marquis von Santa Cruz" von Lopepgo_454.032 (bei dem der Dichter selbst betheiligt war) beweisen, daß auch die Nähe pgo_454.033 der Zeit große Dichter von der Wahl solcher Stoffe nicht abschreckte! pgo_454.034 Und wir möchten dies Vorrecht mit besonderer Betonung für die Tragödie pgo_454.035 der Gegenwart in Anspruch nehmen. Die bürgerliche Tragödie
pgo_454.001 Literatur“ hinwies, hat neuerdings Vischer im letzten Hefte seiner pgo_454.002 Aesthetik auf das Klarste und Bestimmteste ausgesprochen: „Shakespeare's pgo_454.003 Styl, geläutert durch wahre, freie Aneignung des pgo_454.004 Antiken.“ Jn der That bewegen sich um diesen Punkt die Schiller'- pgo_454.005 schen und Göthe'schen Tragödieen, bald mehr nach der einen, bald mehr pgo_454.006 nach der andern Seite sich neigend. Die schönste Mitte hat Schillerpgo_454.007 im „Wallenstein“ und in der „Maria Stuart“ erreicht. Die individuelle pgo_454.008 Kraft der Charakteristik, der scharf bestimmte und mannichfach gefärbte pgo_454.009 Ausdruck des dramatischen Pathos, die psychologische Entwicklung der pgo_454.010 Leidenschaft, die sinn- und gedankenreiche Darstellung der Menschenwelt pgo_454.011 von Shakespeare, ohne die Formlosigkeiten seiner Komposition, die pgo_454.012 oft schwülstige Bizarrerie seines Ausdruckes, die Uebertreibungen und pgo_454.013 Geschmacklosigkeiten seiner Epoche; die Harmonie und Klarheit des pgo_454.014 Styles, den künstlerischen Adel der Form, die fesselnde Einheit der pgo_454.015 Handlung von der antiken Tragödie ohne ihre engen Beschränkungen pgo_454.016 in Zeit und Ort, ohne den unorganischen „Chor,“ ohne ihre zu plastisch pgo_454.017 allgemeine Haltung, ohne ihre mythischen Stoffe und fatalistische Tendenz pgo_454.018 — das ist das Erbe der echten Kunstform, das unsere neuere Tragödie pgo_454.019 anzutreten hat und auch anzutreten sucht, und das der echte Genius, pgo_454.020 der im Mittelpunkte unserer Bildung steht, aus sich selbst hervorbringt. pgo_454.021 Nach dem Jnhalte ist die moderne Tragödie eine historische oder bürgerliche.pgo_454.022 Die Aufgabe der Gegenwart ist, die historische Tragödie pgo_454.023 zur politischen, die bürgerliche zur socialen zur erheben. Wir verstehn pgo_454.024 hier das Wort „politisch“ nicht im Sinne der Tagestendenzen, pgo_454.025 sondern wir meinen damit nur, daß der Stoff einer geschichtlichen Tragödie pgo_454.026 sich um staatliche Konflikte drehe, welche von Jnteresse für die pgo_454.027 Gegenwart sind, daß man nicht historische Stoffe aus der Zeit Attila's pgo_454.028 und Alarich's, der Karolinger und Kapetinger wähle, sondern aus pgo_454.029 Epochen, die unserer Zeit nahe verwandt sind, oder in denen sie unmittelbar pgo_454.030 wurzelt. „Die Perser“ des Aeschylos, „Heinrich VIII.“ von pgo_454.031 Shakespeare, „der Sieg des Marquis von Santa Cruz“ von Lopepgo_454.032 (bei dem der Dichter selbst betheiligt war) beweisen, daß auch die Nähe pgo_454.033 der Zeit große Dichter von der Wahl solcher Stoffe nicht abschreckte! pgo_454.034 Und wir möchten dies Vorrecht mit besonderer Betonung für die Tragödie pgo_454.035 der Gegenwart in Anspruch nehmen. Die bürgerliche Tragödie
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 454. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/476>, abgerufen am 22.11.2024.
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