Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.pgo_460.001 pgo_460.008 pgo_460.001 pgo_460.008 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p><pb facs="#f0482" n="460"/><lb n="pgo_460.001"/> Lustspielform steht ähnlich, wie die metaphysische Tragödie, ein „Faust,“ <lb n="pgo_460.002"/> „Manfred“ an der äußersten Grenze des Drama; sie wächst über sein <lb n="pgo_460.003"/> Maaß hinaus; sie hat etwas Jnkommensurables. Doch die Fülle und <lb n="pgo_460.004"/> Tiefe des Humors, der sich über die gelockerte Form ausgießt, versöhnt <lb n="pgo_460.005"/> uns mit seinen dramatischen Licenzen. Die historischen Gestalten dieses <lb n="pgo_460.006"/> Lustspiels, die wir kurz vorführen wollen, werden uns seine Bedeutung <lb n="pgo_460.007"/> für die Gegenwart klar machen.</p> <p><lb n="pgo_460.008"/> Die älteste ist die alte <hi rendition="#g">attische Komödie</hi> des <hi rendition="#g">Aristophanes,</hi> des <lb n="pgo_460.009"/> ungezog'nen Lieblings der Kamönen. Er ist vor Allem ein Sohn seiner <lb n="pgo_460.010"/> Epoche, welcher die Zerwürfnisse der damaligen Parteikämpfe, die Lockerung <lb n="pgo_460.011"/> des alten sittlichen Gehalts im Staatsleben durch die Sophisten, <lb n="pgo_460.012"/> ihre Thorheiten auf allen Gebieten des Lebens und der Kunst verewigt <lb n="pgo_460.013"/> hat. Es handelt sich in dieser alten attischen Komödie um die tiefsten <lb n="pgo_460.014"/> Fragen der Welt. Schon <hi rendition="#g">Pherekrates</hi> hatte in seinem „<hi rendition="#g">Wilden</hi>“ <lb n="pgo_460.015"/> die einreißende Gesetzlosigkeit der Athener verspottet, <hi rendition="#g">Eupolis</hi> in dem <lb n="pgo_460.016"/> „<hi rendition="#g">Poleis</hi>“ die Tyrannei, welche die Athener gegen die Bundesstädte ausübten, <lb n="pgo_460.017"/> in den „<hi rendition="#g">Demoi</hi>“ den Uebermuth der Demagogie, <hi rendition="#g">Platon</hi> die Vertreter <lb n="pgo_460.018"/> verkehrter Richtungen in Kunst und Religion und diese Richtungen <lb n="pgo_460.019"/> selbst gegeißelt. Aristophanes schloß sich ihnen an, indem er in den „<hi rendition="#g">Rittern</hi>“ <lb n="pgo_460.020"/> die Demagogie Kleon's, in den „<hi rendition="#g">Wolken</hi>“ die Sophistik, als deren <lb n="pgo_460.021"/> Vertreter er Sokrates auffaßte, in den „<hi rendition="#g">Acharnern</hi>“ und „<hi rendition="#g">dem Frieden</hi>“ <lb n="pgo_460.022"/> den peloponnesischen Krieg, in den „<hi rendition="#g">Wespen</hi>“ die Prozeßsucht der <lb n="pgo_460.023"/> Alten, in der „<hi rendition="#g">Lysistrate,</hi>“ den „<hi rendition="#g">Thesmophoriazusen</hi>“ und den <lb n="pgo_460.024"/> „<hi rendition="#g">Ekklesiazusen</hi>“ die Thorheiten emancipationssüchtiger Weiber und der <lb n="pgo_460.025"/> Gütergemeinschaft geißelt, in den „<hi rendition="#g">Vögeln</hi>“ aber ein humoristisches Weltbild <lb n="pgo_460.026"/> in die Luft bauender, Staatengründender Thorheit, in den „<hi rendition="#g">Fröschen</hi>“ <lb n="pgo_460.027"/> ein Bild unterweltlicher Kunstkritik, aus welchem sich verherrlicht das <lb n="pgo_460.028"/> Bild des echten Kunstideals erhebt, für alle Zeiten hinstellt. Ein Advokat <lb n="pgo_460.029"/> der marathonischen Zeit, ihrer sittlichen Einheit und Gediegenheit, ihres <lb n="pgo_460.030"/> großen nationalen Pathos, kämpft der Dichter, der in vieler Beziehung <lb n="pgo_460.031"/> ein <hi rendition="#g">polemischer Tendenzpoet</hi> zu nennen ist, gegen die Zerrüttung von <lb n="pgo_460.032"/> Hellas, den Bürgerkrieg, die Parteienspaltung, die Verjüngungsversuche <lb n="pgo_460.033"/> der Demagogie und gegen die ganze Welt der Thorheit, die sich in diesem <lb n="pgo_460.034"/> zerspaltenen politischen Leben entfaltet. Die <hi rendition="#g">Grundidee,</hi> die dem <lb n="pgo_460.035"/> Aristophanes vorschwebt, die aus allen grotesken Bildern seiner komischen </p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [460/0482]
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Lustspielform steht ähnlich, wie die metaphysische Tragödie, ein „Faust,“ pgo_460.002
„Manfred“ an der äußersten Grenze des Drama; sie wächst über sein pgo_460.003
Maaß hinaus; sie hat etwas Jnkommensurables. Doch die Fülle und pgo_460.004
Tiefe des Humors, der sich über die gelockerte Form ausgießt, versöhnt pgo_460.005
uns mit seinen dramatischen Licenzen. Die historischen Gestalten dieses pgo_460.006
Lustspiels, die wir kurz vorführen wollen, werden uns seine Bedeutung pgo_460.007
für die Gegenwart klar machen.
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Die älteste ist die alte attische Komödie des Aristophanes, des pgo_460.009
ungezog'nen Lieblings der Kamönen. Er ist vor Allem ein Sohn seiner pgo_460.010
Epoche, welcher die Zerwürfnisse der damaligen Parteikämpfe, die Lockerung pgo_460.011
des alten sittlichen Gehalts im Staatsleben durch die Sophisten, pgo_460.012
ihre Thorheiten auf allen Gebieten des Lebens und der Kunst verewigt pgo_460.013
hat. Es handelt sich in dieser alten attischen Komödie um die tiefsten pgo_460.014
Fragen der Welt. Schon Pherekrates hatte in seinem „Wilden“ pgo_460.015
die einreißende Gesetzlosigkeit der Athener verspottet, Eupolis in dem pgo_460.016
„Poleis“ die Tyrannei, welche die Athener gegen die Bundesstädte ausübten, pgo_460.017
in den „Demoi“ den Uebermuth der Demagogie, Platon die Vertreter pgo_460.018
verkehrter Richtungen in Kunst und Religion und diese Richtungen pgo_460.019
selbst gegeißelt. Aristophanes schloß sich ihnen an, indem er in den „Rittern“ pgo_460.020
die Demagogie Kleon's, in den „Wolken“ die Sophistik, als deren pgo_460.021
Vertreter er Sokrates auffaßte, in den „Acharnern“ und „dem Frieden“ pgo_460.022
den peloponnesischen Krieg, in den „Wespen“ die Prozeßsucht der pgo_460.023
Alten, in der „Lysistrate,“ den „Thesmophoriazusen“ und den pgo_460.024
„Ekklesiazusen“ die Thorheiten emancipationssüchtiger Weiber und der pgo_460.025
Gütergemeinschaft geißelt, in den „Vögeln“ aber ein humoristisches Weltbild pgo_460.026
in die Luft bauender, Staatengründender Thorheit, in den „Fröschen“ pgo_460.027
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Bild des echten Kunstideals erhebt, für alle Zeiten hinstellt. Ein Advokat pgo_460.029
der marathonischen Zeit, ihrer sittlichen Einheit und Gediegenheit, ihres pgo_460.030
großen nationalen Pathos, kämpft der Dichter, der in vieler Beziehung pgo_460.031
ein polemischer Tendenzpoet zu nennen ist, gegen die Zerrüttung von pgo_460.032
Hellas, den Bürgerkrieg, die Parteienspaltung, die Verjüngungsversuche pgo_460.033
der Demagogie und gegen die ganze Welt der Thorheit, die sich in diesem pgo_460.034
zerspaltenen politischen Leben entfaltet. Die Grundidee, die dem pgo_460.035
Aristophanes vorschwebt, die aus allen grotesken Bildern seiner komischen
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