Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

pgo_472.001
doch der Raum verbietet uns, auf diese Miniaturbilder unseres Repertoires pgo_472.002
näher einzugehn. Nur im Allgemeinen möchten wir für die pgo_472.003
realistische Komödie ebenfalls wieder den Vers in Vorschlag bringen, pgo_472.004
den nicht nur Moliere zum großen Theil, den auch Kotzebue, pgo_472.005
Müllner, Steigentesch
und andere deutsche Lustspieldichter mit pgo_472.006
Erfolg angewandt. Er würde von selbst manche Trivialitäten vermeiden, pgo_472.007
in welche unser prasaisches Lustspiel verfällt, der komischen Muse pgo_472.008
einen graziöseren Sokkus anschnallen, die Pointen der Diktion schärfer pgo_472.009
hervorheben, manche Schärfen der Charakteristik dagegen anmuthiger ausgleichen. pgo_472.010
Der früher gebrauchte Alexandriner empfiehlt sich von selbst pgo_472.011
durch seine markirten Einschnitte zu den pointirten Antithesen des schlagenden pgo_472.012
Witzes. Um aber seine Eintönigkeit zu vermeiden, wäre nicht pgo_472.013
nur die moderne freiere Behandlungsweise dieses Verses am Platze, sondern pgo_472.014
der Wechsel mit gereimten vier- und fünffüßigen Jamben würde pgo_472.015
jenen beweglichen Konversationston bilden, den z. B. die Wieland'schen pgo_472.016
Episteln und die episch komischen Dichtungen des vorigen Jahrhunderts pgo_472.017
athmen.

pgo_472.018
Ohne auf das musikalische Drama, die Oper und das Liederspiel pgo_472.019
(Vaudeville), letzteres ein lyrisches Drama mit Gesang, von dem uns pgo_472.020
Holtei einige anmuthige Muster gegeben, näher einzugehn, indem wir pgo_472.021
in Bezug auf das Wesentliche auf das Kapitel: die Dichtkunst und pgo_472.022
die Musik
verweisen, wollen wir noch einen Blick auf das Schauspiel pgo_472.023
werfen, eine dramatische Gattung, welche keine Mischung des pgo_472.024
Komischen und Tragischen enthält, sondern in der zweifelhaften Mitte pgo_472.025
zwischen Tragödie und Komödie steht. Das Schauspiel ist ein Drama, pgo_472.026
in welchem ein ernster Konflikt zu einem glücklichen Ausgang führt. Eine pgo_472.027
neue Begründung dieser Gattung aus der Jdee hat Moritz Carriere pgo_472.028
in seinem Werke "über das Wesen und die Formen der Poesie" versucht. pgo_472.029
Nach ihm herrscht in der Tragödie die Nothwendigkeit, in der Komödie pgo_472.030
der Zufall und die Willkür, im Schauspiel aber die Freiheit, die sich pgo_472.031
selbst so und anders zu bestimmen und sich auch durch eigene Wahl mit den pgo_472.032
objektiven Gesetzen der Weltordnung in Einklang zu bringen versteht. pgo_472.033
Er führt uns von der "Sakontala" der Jndier, der "Jphigenie" und den pgo_472.034
"Eumeniden" des Euripides zu Calderon's "Leben ein Traum," Shakespeare's pgo_472.035
"Cymbeline," "Maaß für Maaß" und "Kaufmann von Venedig,"

pgo_472.001
doch der Raum verbietet uns, auf diese Miniaturbilder unseres Repertoires pgo_472.002
näher einzugehn. Nur im Allgemeinen möchten wir für die pgo_472.003
realistische Komödie ebenfalls wieder den Vers in Vorschlag bringen, pgo_472.004
den nicht nur Molière zum großen Theil, den auch Kotzebue, pgo_472.005
Müllner, Steigentesch
und andere deutsche Lustspieldichter mit pgo_472.006
Erfolg angewandt. Er würde von selbst manche Trivialitäten vermeiden, pgo_472.007
in welche unser prasaisches Lustspiel verfällt, der komischen Muse pgo_472.008
einen graziöseren Sokkus anschnallen, die Pointen der Diktion schärfer pgo_472.009
hervorheben, manche Schärfen der Charakteristik dagegen anmuthiger ausgleichen. pgo_472.010
Der früher gebrauchte Alexandriner empfiehlt sich von selbst pgo_472.011
durch seine markirten Einschnitte zu den pointirten Antithesen des schlagenden pgo_472.012
Witzes. Um aber seine Eintönigkeit zu vermeiden, wäre nicht pgo_472.013
nur die moderne freiere Behandlungsweise dieses Verses am Platze, sondern pgo_472.014
der Wechsel mit gereimten vier- und fünffüßigen Jamben würde pgo_472.015
jenen beweglichen Konversationston bilden, den z. B. die Wieland'schen pgo_472.016
Episteln und die episch komischen Dichtungen des vorigen Jahrhunderts pgo_472.017
athmen.

pgo_472.018
Ohne auf das musikalische Drama, die Oper und das Liederspiel pgo_472.019
(Vaudeville), letzteres ein lyrisches Drama mit Gesang, von dem uns pgo_472.020
Holtei einige anmuthige Muster gegeben, näher einzugehn, indem wir pgo_472.021
in Bezug auf das Wesentliche auf das Kapitel: die Dichtkunst und pgo_472.022
die Musik
verweisen, wollen wir noch einen Blick auf das Schauspiel pgo_472.023
werfen, eine dramatische Gattung, welche keine Mischung des pgo_472.024
Komischen und Tragischen enthält, sondern in der zweifelhaften Mitte pgo_472.025
zwischen Tragödie und Komödie steht. Das Schauspiel ist ein Drama, pgo_472.026
in welchem ein ernster Konflikt zu einem glücklichen Ausgang führt. Eine pgo_472.027
neue Begründung dieser Gattung aus der Jdee hat Moritz Carrière pgo_472.028
in seinem Werke „über das Wesen und die Formen der Poesie“ versucht. pgo_472.029
Nach ihm herrscht in der Tragödie die Nothwendigkeit, in der Komödie pgo_472.030
der Zufall und die Willkür, im Schauspiel aber die Freiheit, die sich pgo_472.031
selbst so und anders zu bestimmen und sich auch durch eigene Wahl mit den pgo_472.032
objektiven Gesetzen der Weltordnung in Einklang zu bringen versteht. pgo_472.033
Er führt uns von der „Sakontala“ der Jndier, der „Jphigenie“ und den pgo_472.034
„Eumeniden“ des Euripides zu Calderon's „Leben ein Traum,“ Shakespeare's pgo_472.035
„Cymbeline,“ „Maaß für Maaß“ und „Kaufmann von Venedig,“

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0494" n="472"/><lb n="pgo_472.001"/>
doch der Raum verbietet uns, auf diese Miniaturbilder unseres Repertoires <lb n="pgo_472.002"/>
näher einzugehn. Nur im Allgemeinen möchten wir für die <lb n="pgo_472.003"/> <hi rendition="#g">realistische Komödie</hi> ebenfalls wieder den <hi rendition="#g">Vers</hi> in Vorschlag bringen, <lb n="pgo_472.004"/>
den nicht nur Molière zum großen Theil, den auch <hi rendition="#g">Kotzebue, <lb n="pgo_472.005"/>
Müllner, Steigentesch</hi> und andere deutsche Lustspieldichter mit <lb n="pgo_472.006"/>
Erfolg angewandt. Er würde von selbst manche Trivialitäten vermeiden, <lb n="pgo_472.007"/>
in welche unser prasaisches Lustspiel verfällt, der komischen Muse <lb n="pgo_472.008"/>
einen graziöseren Sokkus anschnallen, die Pointen der Diktion schärfer <lb n="pgo_472.009"/>
hervorheben, manche Schärfen der Charakteristik dagegen anmuthiger ausgleichen. <lb n="pgo_472.010"/>
Der früher gebrauchte Alexandriner empfiehlt sich von selbst <lb n="pgo_472.011"/>
durch seine markirten Einschnitte zu den pointirten Antithesen des schlagenden <lb n="pgo_472.012"/>
Witzes. Um aber seine Eintönigkeit zu vermeiden, wäre nicht <lb n="pgo_472.013"/>
nur die moderne freiere Behandlungsweise dieses Verses am Platze, sondern <lb n="pgo_472.014"/>
der Wechsel mit gereimten vier- und fünffüßigen Jamben würde <lb n="pgo_472.015"/>
jenen beweglichen Konversationston bilden, den z. B. die Wieland'schen <lb n="pgo_472.016"/>
Episteln und die episch komischen Dichtungen des vorigen Jahrhunderts <lb n="pgo_472.017"/>
athmen.</p>
                <p><lb n="pgo_472.018"/>
Ohne auf das musikalische Drama, die <hi rendition="#g">Oper</hi> und das <hi rendition="#g">Liederspiel</hi> <lb n="pgo_472.019"/>
(Vaudeville), letzteres ein lyrisches Drama mit Gesang, von dem uns <lb n="pgo_472.020"/> <hi rendition="#g">Holtei</hi> einige anmuthige Muster gegeben, näher einzugehn, indem wir <lb n="pgo_472.021"/>
in Bezug auf das Wesentliche auf das Kapitel: <hi rendition="#g">die Dichtkunst und <lb n="pgo_472.022"/>
die Musik</hi> verweisen, wollen wir noch einen Blick auf das <hi rendition="#g">Schauspiel</hi> <lb n="pgo_472.023"/>
werfen, eine dramatische Gattung, welche keine Mischung des <lb n="pgo_472.024"/>
Komischen und Tragischen enthält, sondern in der zweifelhaften Mitte <lb n="pgo_472.025"/>
zwischen Tragödie und Komödie steht. Das Schauspiel ist ein Drama, <lb n="pgo_472.026"/>
in welchem ein ernster Konflikt zu einem glücklichen Ausgang führt. Eine <lb n="pgo_472.027"/>
neue Begründung dieser Gattung aus der Jdee hat <hi rendition="#g">Moritz Carrière</hi> <lb n="pgo_472.028"/>
in seinem Werke &#x201E;über das Wesen und die Formen der Poesie&#x201C; versucht. <lb n="pgo_472.029"/>
Nach ihm herrscht in der Tragödie die Nothwendigkeit, in der Komödie <lb n="pgo_472.030"/>
der Zufall und die Willkür, im Schauspiel aber die <hi rendition="#g">Freiheit,</hi> die sich <lb n="pgo_472.031"/>
selbst so und anders zu bestimmen und sich auch durch eigene Wahl mit den <lb n="pgo_472.032"/>
objektiven Gesetzen der Weltordnung in Einklang zu bringen versteht. <lb n="pgo_472.033"/>
Er führt uns von der &#x201E;Sakontala&#x201C; der Jndier, der &#x201E;Jphigenie&#x201C; und den <lb n="pgo_472.034"/>
&#x201E;Eumeniden&#x201C; des Euripides zu Calderon's &#x201E;Leben ein Traum,&#x201C; Shakespeare's <lb n="pgo_472.035"/>
&#x201E;Cymbeline,&#x201C; &#x201E;Maaß für Maaß&#x201C; und &#x201E;Kaufmann von Venedig,&#x201C;
</p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[472/0494] pgo_472.001 doch der Raum verbietet uns, auf diese Miniaturbilder unseres Repertoires pgo_472.002 näher einzugehn. Nur im Allgemeinen möchten wir für die pgo_472.003 realistische Komödie ebenfalls wieder den Vers in Vorschlag bringen, pgo_472.004 den nicht nur Molière zum großen Theil, den auch Kotzebue, pgo_472.005 Müllner, Steigentesch und andere deutsche Lustspieldichter mit pgo_472.006 Erfolg angewandt. Er würde von selbst manche Trivialitäten vermeiden, pgo_472.007 in welche unser prasaisches Lustspiel verfällt, der komischen Muse pgo_472.008 einen graziöseren Sokkus anschnallen, die Pointen der Diktion schärfer pgo_472.009 hervorheben, manche Schärfen der Charakteristik dagegen anmuthiger ausgleichen. pgo_472.010 Der früher gebrauchte Alexandriner empfiehlt sich von selbst pgo_472.011 durch seine markirten Einschnitte zu den pointirten Antithesen des schlagenden pgo_472.012 Witzes. Um aber seine Eintönigkeit zu vermeiden, wäre nicht pgo_472.013 nur die moderne freiere Behandlungsweise dieses Verses am Platze, sondern pgo_472.014 der Wechsel mit gereimten vier- und fünffüßigen Jamben würde pgo_472.015 jenen beweglichen Konversationston bilden, den z. B. die Wieland'schen pgo_472.016 Episteln und die episch komischen Dichtungen des vorigen Jahrhunderts pgo_472.017 athmen. pgo_472.018 Ohne auf das musikalische Drama, die Oper und das Liederspiel pgo_472.019 (Vaudeville), letzteres ein lyrisches Drama mit Gesang, von dem uns pgo_472.020 Holtei einige anmuthige Muster gegeben, näher einzugehn, indem wir pgo_472.021 in Bezug auf das Wesentliche auf das Kapitel: die Dichtkunst und pgo_472.022 die Musik verweisen, wollen wir noch einen Blick auf das Schauspiel pgo_472.023 werfen, eine dramatische Gattung, welche keine Mischung des pgo_472.024 Komischen und Tragischen enthält, sondern in der zweifelhaften Mitte pgo_472.025 zwischen Tragödie und Komödie steht. Das Schauspiel ist ein Drama, pgo_472.026 in welchem ein ernster Konflikt zu einem glücklichen Ausgang führt. Eine pgo_472.027 neue Begründung dieser Gattung aus der Jdee hat Moritz Carrière pgo_472.028 in seinem Werke „über das Wesen und die Formen der Poesie“ versucht. pgo_472.029 Nach ihm herrscht in der Tragödie die Nothwendigkeit, in der Komödie pgo_472.030 der Zufall und die Willkür, im Schauspiel aber die Freiheit, die sich pgo_472.031 selbst so und anders zu bestimmen und sich auch durch eigene Wahl mit den pgo_472.032 objektiven Gesetzen der Weltordnung in Einklang zu bringen versteht. pgo_472.033 Er führt uns von der „Sakontala“ der Jndier, der „Jphigenie“ und den pgo_472.034 „Eumeniden“ des Euripides zu Calderon's „Leben ein Traum,“ Shakespeare's pgo_472.035 „Cymbeline,“ „Maaß für Maaß“ und „Kaufmann von Venedig,“

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/494
Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 472. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/494>, abgerufen am 22.11.2024.