Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.pgo_030.001 *) pgo_030.033
"Die Einbildungskraft durch die Einbildungskraft zu entzünden, ist das Geheimniß pgo_030.034 des Künstlers." (Wilhelm von Humboldt, Werke Bd. 4. S. 19.) pgo_030.001 *) pgo_030.033
„Die Einbildungskraft durch die Einbildungskraft zu entzünden, ist das Geheimniß pgo_030.034 des Künstlers.“ (Wilhelm von Humboldt, Werke Bd. 4. S. 19.) <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0052" n="30"/><lb n="pgo_030.001"/><hi rendition="#g">Dichtkunst?</hi> Wo ist die sinnliche Gegenwart des dichterischen Gebildes? <lb n="pgo_030.002"/> Die in der Vorstellung wiedergespiegelte Sinnlichkeit ist das Material <lb n="pgo_030.003"/> der Dichtkunst. Die Einbildungskraft ist gleichsam die Erinnerung der <lb n="pgo_030.004"/> ganzen äußeren Welt, die in die Seele aufgenommene Stoffwelt. Diese <lb n="pgo_030.005"/> sinnliche Vorstellung ist Material, wenn auch vergeistigtes. Wie draußen <lb n="pgo_030.006"/> sind auch in der Seele die Erscheinungen bunt zusammengewürfelt und <lb n="pgo_030.007"/> aufgehäuft; wo das Schöne darin erscheint, schimmert es, selbst zufällig, <lb n="pgo_030.008"/> durch eine Welt der Zufälligkeit hindurch. Diese Welt der Vorstellungen <lb n="pgo_030.009"/> ist daher ebensogut wie Stein, Marmor und Erz, wie Farbe und Leinwand, <lb n="pgo_030.010"/> ein <hi rendition="#g">Stoff</hi> der Kunst. Aber er ist der <hi rendition="#g">reichste,</hi> wie wir gleich <lb n="pgo_030.011"/> hinzusetzen können. Er hat keine Erdschwere, wie jene unmittelbar sinnlichen <lb n="pgo_030.012"/> Stoffe, welche durch ihre ganze Beschaffenheit die Thätigkeit des <lb n="pgo_030.013"/> Künstlers in engere Kreise bannen. Er ist ihr am verwandtesten; denn <lb n="pgo_030.014"/> der Künstler schafft nur durch die gesteigerte Kraft und Jntensität der <lb n="pgo_030.015"/> Vorstellung und Anschauung, welche in der Poesie zugleich das Material <lb n="pgo_030.016"/> seiner Kunst bildet. Die allgemeine Phantasie also, die sich passiv und <lb n="pgo_030.017"/> empfangend verhält, ist der Stoff, in welchen der Dichter sein Kunstwerk <lb n="pgo_030.018"/> überträgt, in dem er es aufbaut. Wohl weckt in dieser Phantasie schon <lb n="pgo_030.019"/> das Gedächtniß die schlummernden Bilder; aber nur in zufälliger Reihe <lb n="pgo_030.020"/> oder an der Kette des Verstandes. Die schaffende Phantasie aber weckt <lb n="pgo_030.021"/> in der empfangenden die Bilder nach dem Gesetze des Schönen; sie greift <lb n="pgo_030.022"/> nur diejenigen Tasten zusammen, die einen harmonischen Akkord geben, <lb n="pgo_030.023"/> und läßt die dazwischen liegenden in ihrem Schlummer verharren. Daß <lb n="pgo_030.024"/> der Stoff todt, roh sei, der Bildung gewärtig, erfüllt sich auch hier wie <lb n="pgo_030.025"/> bei den anderen Künsten; denn die Einbildungskraft ist, dem Dichter <lb n="pgo_030.026"/> gegenüber, ein leeres Blatt, auf das er schreibt. Die empfangende Phantasie <lb n="pgo_030.027"/> ist eine <foreign xml:lang="lat">camera obscura</foreign>; die schaffende führt die wechselnden Bilder <lb n="pgo_030.028"/> in ihr vorüber. Wohl bedarf jede andere Kunst ebenfalls der aufnehmenden <lb n="pgo_030.029"/> Phantasie<note xml:id="PGO_030_1" place="foot" n="*)"><lb n="pgo_030.033"/> „Die Einbildungskraft durch die Einbildungskraft zu entzünden, ist das Geheimniß <lb n="pgo_030.034"/> des Künstlers.“ (<hi rendition="#g">Wilhelm von Humboldt,</hi> Werke Bd. 4. S. 19.)</note>; aber das Kunstgebilde, das sie schafft, steht <lb n="pgo_030.030"/> selbstständig zwischen dem Schaffenden und Empfangenden; das Kunstgebilde <lb n="pgo_030.031"/> des Dichters wird aus der Phantasie heraus und in die Phantasie <lb n="pgo_030.032"/> hineingebaut. Die einzige Vermittlerin des geistigen Verkehrs, die </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [30/0052]
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Dichtkunst? Wo ist die sinnliche Gegenwart des dichterischen Gebildes? pgo_030.002
Die in der Vorstellung wiedergespiegelte Sinnlichkeit ist das Material pgo_030.003
der Dichtkunst. Die Einbildungskraft ist gleichsam die Erinnerung der pgo_030.004
ganzen äußeren Welt, die in die Seele aufgenommene Stoffwelt. Diese pgo_030.005
sinnliche Vorstellung ist Material, wenn auch vergeistigtes. Wie draußen pgo_030.006
sind auch in der Seele die Erscheinungen bunt zusammengewürfelt und pgo_030.007
aufgehäuft; wo das Schöne darin erscheint, schimmert es, selbst zufällig, pgo_030.008
durch eine Welt der Zufälligkeit hindurch. Diese Welt der Vorstellungen pgo_030.009
ist daher ebensogut wie Stein, Marmor und Erz, wie Farbe und Leinwand, pgo_030.010
ein Stoff der Kunst. Aber er ist der reichste, wie wir gleich pgo_030.011
hinzusetzen können. Er hat keine Erdschwere, wie jene unmittelbar sinnlichen pgo_030.012
Stoffe, welche durch ihre ganze Beschaffenheit die Thätigkeit des pgo_030.013
Künstlers in engere Kreise bannen. Er ist ihr am verwandtesten; denn pgo_030.014
der Künstler schafft nur durch die gesteigerte Kraft und Jntensität der pgo_030.015
Vorstellung und Anschauung, welche in der Poesie zugleich das Material pgo_030.016
seiner Kunst bildet. Die allgemeine Phantasie also, die sich passiv und pgo_030.017
empfangend verhält, ist der Stoff, in welchen der Dichter sein Kunstwerk pgo_030.018
überträgt, in dem er es aufbaut. Wohl weckt in dieser Phantasie schon pgo_030.019
das Gedächtniß die schlummernden Bilder; aber nur in zufälliger Reihe pgo_030.020
oder an der Kette des Verstandes. Die schaffende Phantasie aber weckt pgo_030.021
in der empfangenden die Bilder nach dem Gesetze des Schönen; sie greift pgo_030.022
nur diejenigen Tasten zusammen, die einen harmonischen Akkord geben, pgo_030.023
und läßt die dazwischen liegenden in ihrem Schlummer verharren. Daß pgo_030.024
der Stoff todt, roh sei, der Bildung gewärtig, erfüllt sich auch hier wie pgo_030.025
bei den anderen Künsten; denn die Einbildungskraft ist, dem Dichter pgo_030.026
gegenüber, ein leeres Blatt, auf das er schreibt. Die empfangende Phantasie pgo_030.027
ist eine camera obscura; die schaffende führt die wechselnden Bilder pgo_030.028
in ihr vorüber. Wohl bedarf jede andere Kunst ebenfalls der aufnehmenden pgo_030.029
Phantasie *); aber das Kunstgebilde, das sie schafft, steht pgo_030.030
selbstständig zwischen dem Schaffenden und Empfangenden; das Kunstgebilde pgo_030.031
des Dichters wird aus der Phantasie heraus und in die Phantasie pgo_030.032
hineingebaut. Die einzige Vermittlerin des geistigen Verkehrs, die
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„Die Einbildungskraft durch die Einbildungskraft zu entzünden, ist das Geheimniß pgo_030.034
des Künstlers.“ (Wilhelm von Humboldt, Werke Bd. 4. S. 19.)
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